Der Mann ohne Gedächtnis / L’uomo senza memoria / Puzzle

Edward leidet nach einem schweren Verkehrsunfall an einer anhaltenden Amnesie. In der Psychiatrie trifft er einen Mann, der behauptet, Edward von früher zu kennen – und, dass Edward mit einer in Italien lebenden Amerikanerin verheiratet sei. Als kurz darauf der „alte Bekannte“ von einem Killer mit einem Kopfschuss hingerichtet wird, fliegt Edward nach Italien, um den Dingen auf den Grund zu gehen. (Koch Media)

Duccio Tessaris vorherige Gialli waren La morte risale a ieri sera (Das Grauen kam aus dem Nebel, 1970) und Una farfalla con le ali insanguinate (Blutspur im Park, 1971), daher ist es nur passend, dass sich sein letzter Beitrag zum „Genre“ als ähnlich erfinderisch und nonkonformistisch erweisen sollte. Die komplexe Erzählung enthüllt Teile der komplizierten Vergangenheit des Protagonisten und hält das Publikum somit mehr oder weniger auf dem gleichen Wissensstand wie ihn. Die Vorstellung eines scheinbar anständigen Mannes, der eine gewalttätige und schmutzige Vergangenheit vergessen hat (oder sich dafür entschieden hat, sie zu vergessen), bildet einen interessanten Plot, der dazu beiträgt, den Film von den eher gewöhnlichen Gialli dieser Periode abzuheben. Schockeffekte und andere reißerische Elemente wurden ebenfalls reduziert, um eine komplexe Erzählung aufbauen zu können. Der Film profitiert von einigen sehr überzeugenden und interessanten Charakteren. Edward (Luc Merenda) ist ein sehr engagierter Protagonist, der sofort Empathie beim Zuschauer hervorruft, auch wenn man sich über seinen Hintergrund nicht sicher sein kann. Er legt Intelligenz und Menschlichkeit an den Tag, während seine Versuche wieder mit seiner Frau zusammen zu kommen, um sein früheres Leben zurückzugewinnen, seltsamerweise berührend wirken.

Sara (Senta Berger) ist eine starke, belastbare Frau … keineswegs das übliche verwirrte Opfer, wobei sie auch noch sehr sympathisch dargestellt wird. Sie hat treu auf die Rückkehr ihres Ehemannes gewartet, inzwischen hat sie jedoch Freundschaft mit Daniel geschlossen, der ihr moralische Unterstützung und ein offenes Ohr bietet. Daniels (Umberto Orsini) gemischte Gefühle über Edwards Rückkehr fühlen sich sehr echt an. Bevor er wie ein verschmähter Liebhaber reagiert, behält er einen kühlen Kopf und geht mit Saras Gefühlen in dieser Angelegenheit konform. Es kommt auch ein kleiner Jungen namens Luca (Duilio Cruciani) vor, der für Sara zu einer Art Ersatzsohn geworden ist. Luca ist frühreif und offenherzig, kommt aber nie als unausstehlich rüber. Hier handelt es sich um Charaktere, die es wirklich wert sind, ein wenig Zeit in sie zu investieren, auch wenn die wendungsreiche Erzählung beginnt Verborgenes zu enthüllen. Tessari behandelt das Material mit seinem üblichen Flair und Autorität. Die Geschichte gestaltet sich faszinierend, während sich Tessari nicht auf viele grelle Gimmicks verlässt, damit sie auch funktioniert. Stattdessen lässt er das Material für sich selbst sprechen und geht, wenn es die Situation erfordert, in einen barockeren Stilwinkel über, vermeidet im Allgemeinen aber einen Überschuss an Kunstfertigkeit.

Giulio Albonicos Kinematografie ist als schick und stilvoll zu bezeichnen, während Gianni Ferrio einen weiteren exzellenten Soundtrack beisteuert. Der Film ist zusätzlich mit sehr gutem Tempo ausgestattet und vermag es die Aufmerksamkeit des Publikums bis zum Ende aufrecht zu erhalten. Wie oben erwähnt, wurde die Gewalt gedämpft, doch Tessari konzentriert sich auf Dinge, auf die es tatsächlich ankommt. Einige Trailer spielten den Einsatz einer Kettensäge aus, die in der Erzählung auch wirklich vorkommt. Der Film ist zwar nicht gerade voll an Zerstückelungs-Chaos, doch wenn die Requisite relativ früh eingeführt wird, besteht kein Zweifel daran, dass sie auch irgendwann ins Spiel kommt. Mehr darüber zu verraten würde eine von vielen Überraschungen des Films verderben. Die attraktive Besetzung steht dem Film sicherlich enorm gut zu Gesicht. Luc Merenda spielt gut, als bedrängter Protagonist. Er ist ein Schauspieler, der sowohl Wärme als auch einen Hauch von Bedrohung vermitteln kann, was ihm in der Rolle von Edward zugutekommt. Es herrscht außerdem noch eine enorme Chemie zwischen ihm und Senta Berger, was ihre komplizierte Beziehung umso interessanter und glaubwürdiger macht.

Senta Berger ist ausgezeichnet als Sara und macht sie zu einer willensstarken aber sympathischen Figur, die mehr als fähig ist, sich gegen die Bösewichte zu behaupten, die Edward und sie ins Visier nehmen. Berger wurde 1941 in Österreich geboren und begann ab 1950 kleine Rollen (oft ohne Nennung im Abspann) in deutschen Filmen zu spielen und arbeitete sich dann schrittweise nach oben, um ein internationaler Star zu werden. Sie wurde von Dr. Mabuse (Das Testament des Dr. Mabuse, 1962) terrorisiert, von Christopher Lees Sherlock Holmes (Sherlock Holmes und das Halsband des Todes, 1962) gerettet und schloss sich Leuten wie Kirk Douglas, Yul Brynner, Frank Sinatra und John Wayne für Cast a Giant Shadow (Der Schatten des Giganten, 1966) an. Sie wurde auch Regisseur Sam Peckinpah nicht nur für einen, sondern für gleich zwei Filme auferlegt: Major Dundee (Sierra Charriba, 1965) und Cross of Iron (Steiner – Das Eiserne Kreuz, 1977). Um ehrlich zu sein, lag es nicht daran, dass Peckinpah die Schauspielerin nicht mochte, sondern daran, dass die Produzenten in beiden Fällen der Meinung waren, die an Testosteron reichen Filme würden ein bisschen romantisches Interesse erfordern.

Senta Berger spielte mit Frank Wolff in Quando le donne persero la coda (Toll trieben es die alten Germanen, 1972), was sich als letzte Anstrengung des letzteren herausstellen sollte. Er beging spät in der Produktion Selbstmord. In den letzten Jahren war Berger in italienischen und deutschen Filmen aktiv. Umberto Orsini tritt nach einer frühen Rolle in Interrabang (1969) erneut im filone auf und macht seine Sache als verliebter Daniel außergewöhnlich gut. Anita Strindberg ist ebenfalls zugegen, hat allerdings nicht viel Bildschirmzeit, während der zuverlässig schäbige Bruno Corazzari als unerwünschtes Gesicht aus Edwards Vergangenheit in Erinnerung bleibt. Corazzari wurde 1940 geboren und debütierte 1967 mit einer Nebenrolle im Top Italo-Western Da uomo a uomo (Von Mann zu Mann, 1967) unter der Regie von Giulio Petroni. Corazzari würde ein äußerst bekanntes Gesicht dieses Genres werden und in Sergio Corbuccis Il Grande Silenzio (Leichen pflastern seinen Weg, 1968), Sergio Leones C’era una volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod, 1968), Mario Bavas Roy Colt e Winchester Jack (Drei Halunken und ein Halleluja, 1970) und Lucio Fulcis I quattro dell’Apocalisse (Verdammt zu leben – Verdammt zu sterben, 1975) auftreten.

Corazzari war auch im Giallo immer wieder präsent und trat unter anderem in Lo strano vizio della signora Wardh (Der Killer von Wien, 1971), Sette orchidee macchiate di rosso (Das Rätsel des silbernen Halbmonds, 1972) und Sette note in nero (Die sieben schwarzen Noten, 1977) auf. Er war in den letzten Jahren nicht so aktiv, ist aber im neuen Jahrtausend in einigen Filmen aufgetaucht. Leider würde sich L’uomo senza memoria als Tessaris letzter „Stich“ innerhalb des filone herausstellen. Er zeigte echte Affinität zu dieser Art von Material, doch seine Karriere sollte, wie die von so vielen anderen, durch die zunehmende Popularität des italienischen Fernsehens in den 80er Jahren enorm beeinträchtigt werden.

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Darsteller: Senta Berger, Luc Merenda, Umberto Orsini, Anita Strindberg, Bruno Corazzari
Regisseur(e): Duccio Tessari
Komponist: Gianni Ferrio
Künstler: Mario Morra, Danda Ortona, Ernesto Gastaldi, Giulio Albonico
Format: Dolby, PAL
Sprache: Italienisch (Dolby Digital 2.0), Deutsch (Dolby Digital 2.0)
Untertitel: Deutsch
Region: Region 2
Bildseitenformat: 16:9 – 1.77:1
FSK: Freigegeben ab 16 Jahren
Studio: Koch Media GmbH – DVD
Produktionsjahr: 1974
Spieldauer: 88 Minuten

Bluntwolf

Bluntwolf ist ein Filmliebhaber aus der goldenen Mitte Deutschlands. Sein Spezialgebiet ist das italienische Kino der 60er bis 80er Jahre, insbesondere Italowestern, Giallo und Polizio. Er ist der Chefredakteur von Nischenkino und gehört dem Redaktionsteam der Spaghetti-Western Database an.

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