Die Stadt der verlorenen Kinder / La cité des enfants perdus / The City of lost Children

Auf einer ausrangierten Plattform im Meer haust Krank mit seinen geklonten Brüdern, Mademoiselle Bismuth und Irvin, dem Gehirn. Krank altert rasend schnell, weil er nicht träumen kann. Unterstützt von den Zyklopen entführt er Kinder aus der Hafenstadt, um sich deren Träume einzuverleiben. Doch als er den kleinen Denrée entführt, machen sich der unglaublich starke One und die neunjährige Miette auf die Suche. Ein utopisch-apokalyptisches Abenteuer jenseits aller Vorstellungskraft beginnt… (Turbine Medien)

Von den Machern von Die fabelhafte Welt der Amelie wird hier jetzt ein Film besprochen, bei dem es sich glücklicherweise nicht um Alien – Die Wiedergeburt von 1997 handelt! Jeder kann und darf seine Down-Momente haben, das ist sicher! 1991 führte das Kreativteam Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro Kinobesucher in ihre alptraumhafte Sicht auf eine postapokalyptische Welt ein, in der Höhlenmenschen den Untergrund bewohnten und ein Metzger sich auf Wohnungsmieter verließ, um seinen Vorrat an Fleisch hoch zu halten. Delicatessen, eine bizarre schwarze Komödie, wurde so etwas wie ein Kult-Hit – sicherlich nicht jedermanns Sache, doch diejenigen, die den Streifen (für sich) verstanden haben, lernten ihn meistens auch zu lieben. Vier Jahre später waren Jeunet und Caro mit ihrem bis dahin neusten Film Die Stadt der verlorenen Kinder zurück, wobei es offensichtlich war, dass sie weder ihre Herangehensweise moderiert, noch ihre Vision dem Mainstream angepasst haben. Die Stadt der verlorenen Kinder ist optisch genauso auffällig und gewagt unkonventionell wie seine Vorgänger.

In Die Stadt der verlorenen Kinder präsentieren Jeunet und Caro eine weitere düstere Welt, in der kein „normales“ Leben mehr stattfindet. Der Film wurde mit Atmosphäre nur so vollgepackt und hat zudem auch einige der einfallsreichsten Bühnenbilder des Jahres zu bieten. Der Film funktioniert teilweise so gut, weil sich die Filmemacher die Zeit und Mühe genommen haben, um eine seltsame Welt zu gestalten, in der all ihre schrulligen Charaktere leben und operieren können. Letztendlich lässt sich Jeunets und Caros Flick thematisch und stilistisch von so unterschiedlichen Quellen wie Frankenstein (1931), Dracula (1931), Brazil (1985), Time Bandits (1981) und Der Zauberer von Oz (1939) inspirieren. Wie Delicatessen zeichnet sich auch Die Stadt der verlorenen Kinder durch schwarzen, verdrehten Humor aus, doch dieser Film ist eher als eine Fantasy- denn eine makaber schwarze Komödie anzusehen.

Die Stadt der verlorenen Kinder verbindet Träume mit Kreativität, Jugend und Wundern. Die Fähigkeit, der rationalen Welt durch Vorstellungskraft zu entfliehen, schürt nicht nur den Wunsch weiterzuleben, sondern auch das Bedürfnis etwas aus seinem Leben zu machen. In diesem Film wird der brillante aber verdreht verrückte Wissenschaftler Krank (Daniel Emilfork) vorgestellt, dessen Alterungsprozess stetig voranschreitet, weil er nicht träumen kann. Um am Leben zu bleiben, hat er begonnen Kinder einzufangen, um deren Träume zu stehlen. Eines der von Krank entführten jungen Kindern ist der kleine Denrée (Joseph Lucien), der Bruder eines einfältigen starken Zirkusmannes namens One (Ron Perlman). One wird bei der Suche nach seinem Bruder von Miette (Judith Vittet), der neunjährigen, für ihr Alter bereits sehr weisen Anführerin einer Bande von Waisenkindern unterstützt. Gemeinsam versuchen One und Miette in Kranks Festung einzudringen; sich Kranks sechs geklonten Handlangern (alle von Dominque Pinon gespielt) zu entziehen, genauso wie der tödlichen Mademoiselle Bismuth (Mireille Mosse), Irvin, dem sprechenden Gehirn (von Jean-Louis Trintignant gesprochen) und dem Wissenschaftler selbst, um Denrée zu befreien. Was sich als ziemlich schwierige Aufgabe erweist.

Während ein Großteil des Flicks surreal sowie enorm seltsam gestaltet worden ist, wird das emotionale Zentrum des Films – die Beziehung zwischen One und Miette – mit Sorgfalt und echtem Gefühl behandelt. Miette sieht in One und Denrée die Chance für eine Familie, die sie nie hatte, obwohl ihre Absichten dem älteren, kindlichen Mann gegenüber manchmal eher romantischer als schwesterlicher Natur erscheinen. Es ist Jeunets und Caros Verdienst, dass sie in der Lage sind, die Zweideutigkeiten dieser Beziehung liebevoll darzustellen, jedoch ohne jemals einen Hauch von Schmutzigem oder Perversem einfließen zu lassen. Daniel Emilfork spielt als Krank wunderbar beängstigend. Glatzköpfig und böse aussehend weckt er Erinnerungen an Max Schrecks Vampir aus dem Stummfilmklassiker Nosferatu, eine Symphonie des Grauens (1922). Dominique Pinon, der eine Hauptrolle in Delicatessen inne gehabt hatte, nutzt sein ungewöhnliches Gesicht sowie seine albernen Manierismen, um seine Klone in die Six Stooges zu verwandeln, um einen guten komischen Effekt zu erzielen. Judith Vittet legt in ihrer ansprechenden Verkörperung von Miette großartiges Schauspiel an den Tag, während Ron Perlman, als der Starke sowie Stille One recht wirkungsvoll agiert.

Wie Delicatessen wird auch Die Stadt der verlorenen Kinder nicht jedermanns Geschmack treffen. Obwohl wir den vorherigen Jeunet und Caro Film sehr genossen haben, dauerte es doch tatsächlich eine Weile, bis wir uns für diese Anstrengung erwärmen konnten. Die ersten fünfundvierzig Minuten haben schleppendes Tempo aufzuweisen, während man sich leicht in einer der vielen dunklen, Labyrinth-artigen Gassen des Drehbuchs verirren kann. Der Film neigt dazu, sporadisch vor sich hin zu taumeln, bis sich Miette als zentrale Figur etabliert. Von diesem Zeitpunkt an ist eine Verbesserung sofort und beständig erkennbar. Für diejenigen, die das Ausgefallene mögen, ist Die Stadt der verlorenen Kinder auf jeden Fall mehr als nur einen Blick wert. Nicht zu vergessen, der formidable Soundtrack stammt von Angelo Badalamenti.

Bonusmaterial:

  • Audiokommentar von Autor/Regisseur Jean-Pierre Jeunet *
  • Neues Interview mit Ron Perlman (ca. 42 Min.) *
  • Making-of Ein Tag am Set (ca. 26 Min.) *
  • Featurette Hinter den Kulissen (ca. 13 Min.)
  • Interview mit Jean-Paul Gaultier (ca. 3 Min.) *
  • Französische Teaser/Trailer
  • Buchteil von Christoph N. Kellerbach über die Entstehungsgeschichte

* in französischer/englischer Sprache mit optionalen deutschen Untertiteln

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Originaltitel: La cité des enfants perdus
Produktionsland: Frankreich, Deutschland, USA 1995
Regie: Jean-Pierre Jeunet, Marc Caro
Darsteller: Ron Perlman, Daniel Emilfork, Judith Vittet, Dominique Pinon, Jean-Claude Dreyfus
Sprache / Ton: Deutsch HD-DTS MA 5.1, Deutsch DTS 2.0, Französisch HD-DTS MA 5.1, Französisch DTS 2.0, Deutsch DD 5.1, Deutsch DD 2.0, Französisch DD 5.1, Französisch DD 2.0
Bildformat: 1,85:1 (1080p), 1,85:1 (16:9)
Untertitel: Deutsch
Laufzeit: 112 Minuten
Anzahl Discs: 2
Genre: Fantasy
Format: Blu-ray / DVD
FSK: freigegeben ab 12 Jahren
Verpackung: Mediabook
Genre: Fantasy
Label: Turbine Medien

Bluntwolf

Bluntwolf ist ein Filmliebhaber aus der goldenen Mitte Deutschlands. Sein Spezialgebiet ist das italienische Kino der 60er bis 80er Jahre, insbesondere Italowestern, Giallo und Polizio. Er ist der Chefredakteur von Nischenkino und gehört dem Redaktionsteam der Spaghetti-Western Database an.

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