Malastrana / La corta notte delle bambole di vetro

Im Prager Stadtpark findet ein Wächter den leblosen Körper des amerikanischen Journalisten Gregory Moore. Obwohl er ins Leichenschauhaus gebracht wird und die Ärzte ihn für tot halten, lebt Gregory noch und liegt im Wachkoma. Langsam erinnert er sich an die Umstände, unter denen er in diesen Zustand gelangt ist. Alles begann mit dem Verschwinden seiner Freundin… (Camera Obscura)

Der amerikanische Journalist Gregory (Jean Sorel), der bewegungslos, jedoch bei vollem Bewusstsein und in einem kataleptischen Zustand auf einem Autopsie Tisch liegt, erinnert sich daran, wie er verzweifelt nach seiner vermissten Freundin Mira (Barbara Bach) in Prag gesucht hatte. Auf seiner Suche geriet er in Konflikt mit einem mysteriösen Orden von sozialen Eliten, der von der „Lebensessenz“ der jüngeren Generationen zehrt. Während er seine Geschichte erzählt, versucht er gleichzeitig seinen eigenen „Mord“ aufzuklären, bevor es zu spät ist und die Chirurgen damit beginnen, eine Autopsie an seinem noch warmen Körper durchzuführen.

La corta notte delle bambole di vetro ist zwar kein typischer Giallo, im klassischen Sinne, mit schwarzen Handschuhen und psychisch traumatisierten Mördern, doch ähnlich wie La casa dalle finestre che ridono (Das Haus der lachenden Fenster, 1976) etabliert er sich als nachdenklicher, provokativer, atmosphärischer und hochwirksamer Thriller mit ausgeprägten Spionage-Elementen und einer ernsthaft allegorischen Botschaft. Der Film beginnt mit der Entdeckung des Körpers des Protagonisten in einem Park in Prag und erinnert dabei an andere Filme wie Frau ohne Gewissen (1944) und Boulevard der Dämmerung (1950), in denen die zentrale Figur die Geschichte von jenseits des Grabes erzählt. Es stellt sich jedoch heraus, dass Gregory wahrhaftig nicht tot ist. Dies versorgt den Film mit der ersten von vielen überraschenden und eigenartigen Enthüllungen. Danach beginnt eine fragmentarische Sondierung von Gregorys letzten Tagen. Die Ereignisse werden in Rückblenden erzählt, während er unbeweglich auf dem Autopsie Tisch oder auf einer Platte in der Leichenhalle liegt. Seine Schilderung von Ereignissen bringt das Publikum näher und näher an den Punkt, wie er dort gelandet ist, wobei sein Voice-Over immer verzweifelter wirkt. Jedes Flashback-Segment führt die Zuschauer tiefer in das Rätsel ein und wird durch eine Reihe von schnell geschnittenen Aufnahmen von Bildern signalisiert, die im Flashback enthalten sein werden. Der Effekt ist sowohl alarmierender, als auch neckender Natur.

Aldo Lados Kamera wirkt oft schwerelos, schwebt und gleitet hinter den verschiedenen Charakteren her, während sie immer tiefer in einer dunklen und schmutzigen Welt von politischer Spionage, Geheimgesellschaften und perversen Akten der Dekadenz versinken. Lado hat ein Händchen für atemberaubend schöne Bilder, weswegen der Film mit interessanten und fesselnden Aufnahmen gespickt ist. Ein solcher Moment ereignet sich, als Gregory von mysteriösen Verfolgern in einen dunklen Raum gejagt wird. In der Dunkelheit stehend, kann er beinahe etwas Weißes erkennen, das vor seinem Gesicht schwebt. Als einer der Verfolger plötzlich in den Raum stürmt und dadurch Licht hineingeworfen wird, kann er erkennen, dass es sich bei der schwebenden weißen Gestalt um eine Lilienvase mitten im Raum, unter einem riesigen Kristallleuchter stehend, handelt. Gerade als sich die Tür öffnet, springt Gregory zurück in die Schatten, um sich zu verstecken. Ein weiteres herausragendes set-piece ereignet sich gegen Ende des Films, als Gregory in seine Wohnung zurückkehrt und halluziniert Miras Leiche würde sich in seinem Kühlschrank befinden. Der Stil, in dem diese Szene gedreht wurde, trägt zu ihrer alarmierenden und alptraumhaften Atmosphäre bei. Die Musik pocht, das Licht gestaltet sich ziemlich grell und die Kamera kippt und streift durch die Wohnung, während Gregory Hoffnungslosigkeit und Panik erliegt. Auch andere Bilder und Momente scheinen eine gewisse dramatische Betonung an sich gebunden zu haben, als ob sie etwas bedeuten würden. Sogar die wiederholten Aufnahmen eines Kristallleuchters, der unheimlich klirrt, als eine Brise Wind durch ihn durchweht, scheinen ein gewisses Maß an Bedrohung und schwerwiegender Bedeutung zu evozieren.

Wie alle guten Gialli ist auch dieser Film voller Ablenkungsmanöver. Gregorys Kollegen erregen von Zeit zu Zeit den Verdacht des Publikums. Jacques Versain (Mario Adorf – der exzentrische katzenfressende Künstler aus Argentos Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe) soll ein stämmiger, irischer oder schottischer Reporter sein, der Gregorys bizarren Theorien Glauben schenkt. Jessica (Ingrid Thulin), Gregorys ehemalige Geliebte und Trägerin verschiedener psychedelischer Kopftücher, besteht darauf Mira sei Gregory einfach nur davon gelaufen und erinnert ihn daran, dass er ihr in letzter Zeit dasselbe angetan hat. Könnte sie etwa eifersüchtig auf Mira sein..?

Der Streifen dient auch als schlaue Allegorie auf den zerstörerischen Charakter totalitärer Regierungen, wie eine, die damals in der Tschechoslowakei an der Macht war. Die seltsamen sozial elitären Mitglieder des Kults repräsentieren übermächtige autoritäre Systeme, in denen die höheren Klassen den jüngeren Generationen, den weniger wohlhabenden und allen anderen, die sich ihnen widersetzen, buchstäblich das Leben aussaugen. Die ältere Generation wird in diesem Film als inhärent finster dargestellt. Die Verachtung und das Misstrauen der älteren Mittelschicht zeigen sich deutlich in der Szene, in der sich Gregory in das Gebäude des Goldschmieds und in einen Raum voller älterer Menschen in Abendgarderobe schleicht, wo einem klassischen Konzert gelauscht wird. Sie sitzen regungslos und sehen unheimlich aus, ähnlich wie die untoten Ghule aus Tanz der toten Seelen (1962). Stanley Kubricks Eyes Wide Shut sollte später die Ereignisse aus Malastrana widerspiegeln, indem ein Mann porträtiert wird, der durch eine fremde und bedrohliche Stadt wandert, während er die Existenz einer mysteriösen sozialen Elite aufdeckt, die sich an orgiastischen Versammlungen erfreut und sich der abnormen Zeremonie des Menschenopfers hingibt.

Anscheinend wollte Lado den Film mit Malastrana betiteln, nach dem Namen eines Bezirks in Prag, wo die Goldschmiede ansässig sind. Seine Produzenten bestanden jedoch auf Short Night of the Butterflies, ein Verweis auf das Schmetterlingsthema, das sich durch den gesamten Film zieht und von einem noch sehr jungen Jürgen Drews dargeboten wird. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass ein anderer Film zur gleichen Zeit einen Titel in Bezug auf Schmetterlinge (Una farfalla con le ali insanguinate, The Bloodstained Butterfly, Blutspur im Park) trug, weshalb der Film in La corta notte delle bambole di vetro (was Die kurze Nacht der Glaspuppen bedeutet) umbenannt wurde. Das Schmetterlingsthema knüpft an Mira und die allgemeine Allegorie des Films auf sozial überlegene Klassen an, die das Leben anderer auf vampirische Art und Weise rauben. Ihre Schönheit war der Grund für ihr Verschwinden. Sie war ebenfalls jung und hat, metaphorisch gesehen, ihre „Flügel“ zu früh „gestutzt“ bekommen. Auf interessante und seltsam angemessene Weise handelt es sich bei der eingerahmten Schmetterlingssammlung, die sie Gregory zum Geschenk macht, um eine bestimmte Art, die nicht fliegen kann. La corta notte delle bambole di vetro bietet auch eine dunkel atmosphärische, halluzinatorisch luftig klirrend klingende Musik mit freundlicher Genehmigung von Ennio Morricone. Ein atemberaubend eindringlicher, fesselnder und manchmal geradezu hitchcockianischer Thriller, dessen Aufbau zu einem unvergesslich düsteren und schockierenden Ausklang führt.

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Darsteller: Mario Adorf, Ingrid Thulin, Jean Sorel, Barbara Bach, Filip Sovagovic
Regisseur(e): Aldo Lado
FSK: Nicht geprüft
Studio: Camera Obscure
Produktionsjahr: 1971
Spieldauer: 97 Minuten

https://www.youtube.com/watch?v=sGpWSEMvQPQ

Bluntwolf

Bluntwolf ist ein Filmliebhaber aus der goldenen Mitte Deutschlands. Sein Spezialgebiet ist das italienische Kino der 60er bis 80er Jahre, insbesondere Italowestern, Giallo und Polizio. Er ist der Chefredakteur von Nischenkino und gehört dem Redaktionsteam der Spaghetti-Western Database an.

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6 Antworten

  1. Andrej sagt:

    Haben Sie vielleicht Avatis “L’arcano incantatore“ gesehen?