Mondo Candido – Ein blutiges Märchen

Candide, der ewig suchende verliebte Jüngling aus Voltaires Klassiker der Weltliteratur, findet sich an der frischen Luft wieder, nachdem er die ihm gewährte Gastfreundschaft auf einem gemütlichen Schloss durch allzu heftigen Cunnilingus mit Kunigunde, der Tochter des nicht sehr erfreuten Hausherren, strapaziert hat. Fortan führt ihn seine fantastische Odyssee quer durch Raum und Zeit, über Schlachtfelder in Ost- und West, in die Arme der Inqisition und schließlich ins moderne Manhattan, stets seiner großen Liebe auf der Spur, die sich jedoch schon längst dem Gruppensex und Drogenrausch ergeben hat. So erkennt Candide die Welt endlich als lasterhaftes Spiegelbild ihrer heruntergekommenen Bewohner.

Mondo Candido findet dafür farbenfrohe Bilder zwischen Genie und blutigem Wahnsinn. Gualtiero Jacopettis letzter Film (sein Co-Regisseur Franco Prosperi schenkte uns noch den superben Animal-Exploiter Wild Beasts) ist ein Meisterwerk des totalen Deliriums, eine wilde Reise voller schockierender Begegnungen und letztendlich ein bravouröser Beweis für Jacopettis These, dass die Menschheit vor die Hunde geht. Mondo Candido ist sein bizarres Vermächtnis. (Camera Obscura)

Mondo Candido - Ein blutiges Märchen

Obwohl der Titel es vermuten lässt, nein, dies ist keine weitere „abstoßende“ Dokumentation der berühmt berüchtigten Filmemacher hinter den sogenannten Mondo-Filmen Mondo Cane Teil1 und 2, Africa Addio und Addio Onkel Tom, in denen uns das Gespann Jacopetti/Prosperi die Schrecken der Welt präsentierten.

Bei Mondo Candido handelt es sich vielmehr um eine Adaption der bekannten Allegorie „Candide“ des gefeierten französischen Autors Voltaire, die gleichzeitig die einzige gemeinsame Arbeit der o.g. Regisseure an einem „richtigen feature-film“ darstellt.

Mondo Candido - Ein blutiges Märchen

Candide (Christopher Brown) ist ein attraktiver, netter, unschuldiger junger Mann, der auf dem Schloss einer adeligen Familie im Westfalen des Mittelalters lebt. Dort wird ihm von seinem Lehrmeister Dr. Pangloss (Jaques Herlin), einem Gelehrten der Metaphysik und Philosophie, beigebracht er lebe in der besten aller möglichen Welten in der alles Absurde, alles Unglück und alle Konflikte einem „höheren Gut“ untergeordnet seien, welches jenseits des Verstandes Normalsterblicher liege. Das unbeschwerte, sorgenfreie und glückliche Leben Candides ändert sich schlagartig und dramatisch, als er sich in Kunigunde (Michelle Miller), die Tochter des Barons, verliebt und mit ihr beim Schäferstündchen erwischt wird. Der aufgebrachte Baron (Gianfranco D’Angelo) verbannt ihn daraufhin wutentbrannt aus dem Schloss und Candides Reise durch eine zeitlose Welt kann nun beginnen. Auf der Suche nach seiner verlorenen Liebe versucht Candide optimistisch zu bleiben, als sich ihm unbeschreibliche Schrecken in einer Welt voller Brutalität, Krieg, Sklaverei und Krankheit offenbaren. Auf seinem Weg durch eine mittelalterliche Landschaft bis hin zum modernen New York, Irland und Israel beginnt er immer mehr an den Thesen seines einstigen Lehrmeisters zu zweifeln.

Mondo Candido - Ein blutiges Märchen

ACHTUNG SPOILER !!!

Zuerst wird Candide von einer Armee „rekrutiert“, die ihre Soldaten dazu ausbildet ihre Köpfe als Rammbock ohne Helm zu benutzen, nur um dann später von modernen Kriegstruppen inklusive Maschinengewehren, Flammenwerfern und Panzern abgeschlachtet zu werden. Danach wird er von der Inquisition gefangen genommen, die in Form von muskelbepackten, folternden Maskenmännern dargestellt wird. Dort werden nackte Frauen in einen riesigen Fleischwolf geführt, es spielen elektrische Gitarren und ein „Schwarzer“ soll vom KKK gelyncht werden. Währenddessen sehnt sich Candide nach Kunigunde und realisiert dabei nicht, dass aus ihr schon längst eine glückliche Hure geworden ist, die gleich vier Männern die Stange hält (jeder bekommt sie für 1/4 des Tages) nachdem sie von „Dämonen“ auf Motorrädern entführt worden ist! YOW! Als irrsinnigster Moment des Films ist jedoch sicherlich derjenige zu beschreiben, in dem Candide ein Schiff in Richtung Neue Welt besteigt  (Christopher Columbus, Marilyn Monroe, Al Capone, Henry Kissinger und Abraham Lincoln gehen auch an Board!??!) und im modernen Manhattan ankommt!? Auf den Straßen von New York trifft er seinen Lehrmeister Pangloss wieder, der nun TV-Werbefilme dreht, während Kunigunde Schlagzeilen mit ihren Orgasmus-Konzerten macht. Schließlich bricht Candide noch nach Irland und Jerusalem auf, wo der einst so naive junge Mann nun endlich beginnt die Welt als den fürchterlichen Ort zu erkennen, der sie ist…

Mondo Candido - Ein blutiges Märchen

Niemals anfällig für Subtilität füllen die Regisseure jeden Frame mit surrealen Wendungen, Slapstick, Sexualität und abstoßenden Bildern. Es ist bestimmt keine optimistische Erzählung, im Gegenteil, sie ist grausam, nihilistisch und pessimistisch aber sie überschwemmen diese mit schwindelerregenden Sequenzen, die eine Karneval-auf-Peyote-Atmosphäre innehaben. Dabei stimmt über die Ausstattung mit exzessiven Kostümen, Sets und Requisiten, über die fantastische Fotografie von Giuseppe Ruzzolini und einem klasse Riz Ortolani Score beinahe alles. Eine atemberaubende Melange aus Politik, Blutvergießen, Phantasie, Lust, Tod und dem Zustand der menschlichen Rasse wird dem Zuschauer um die Ohren gehauen. Dieser Film ist unmöglich zu kategorisieren … er ist ein absurdes Meisterwerk, den irr- und wahnsinnigen Hirnen der beiden Genies Jacopetti und Prosperi entsprungen. Der Film ist so vollkommen anders, so unbeschreiblich frei von jeglichen Konventionen, sodass so etwas heutzutage allerhöchstens von den ganz großen Geistern des zeitgenössischen Kinos zustande gebracht werden könnte. Man kann froh sein, dass man solche Filme heute wiederentdecken kann!

Mondo Candido - Ein blutiges Märchen

Mondo Candido - Ein blutiges MärchenMondo Candido hat von Camera Obscura eine sehr schöne Veröffentlichung bekommen, die auf einer Bonusdisc mit zum Teil recht langen Interviews zu glänzen weiß. Der Knaller ist dabei das beinahe zweistündige Gespräch mit Jacopetti und Prosperi, die eine Menge über ihren Werdegang zu berichten haben. Der Audiokommentar von Christian Keßler und Marcus Stiglegger ist auch, wie immer, spitze!

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Bluntwolf

Bluntwolf ist ein Filmliebhaber aus der goldenen Mitte Deutschlands. Sein Spezialgebiet ist das italienische Kino der 60er bis 80er Jahre, insbesondere Italowestern, Giallo und Polizio. Er ist der Chefredakteur von Nischenkino und gehört dem Redaktionsteam der Spaghetti-Western Database an.

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