Reportage zum Fantasy Filmfest 2022 – Zweiter Teil

Nach dem neuesten Film von Ryuhei Kitamura (The Price We Pay) gab es am Samstag-Abend noch den Thriller Speak No Evil von Christian Tafdrup sowie den überdrehten POV-Horror Deadstream zu begutachten, bevor es am Sonntag zu früher Stunde in Berlin mit der vollen Dosis Kurzfilme im Segment Get Shorty los ging. Insgesamt bot das lange Festival-Wochenende eine sehr abwechslungsreiche Mischung aus eher anspruchsvollen Beiträgen (die Sci-Fi-Parabel After Yang) und stark in Richtung Mainstream schielender Genre-Kost. Als beispielhaft kann diesbezüglich wohl der Beitrag American Carnage genannt werden, der leider wenig überzeugend ausfiel und der im Festival-Programm fraglos zu den schwächeren Filmen gezählt werden kann.

American Carnage
American Carnage

American Carnage von Diego Hallvis versucht seine bemüht originelle Geschichte mit Gesellschaftskritik und schrillen Comedy-Einlagen aufzupeppen, scheitert in diesem Zusammenhang aber kläglich. Die Story um eine Gruppe Jugendlicher, die in einem Seniorenheim eine Art Sozialdienst verrichten und in der Einrichtung auf ein grausiges Geheimnis stoßen, ist weder lustig noch spannend und verliert sich vor allem in der ersten Hälfte in diversen Belanglosigkeiten. Da nützen auch die gut getricksten Effekte nichts, denn rein quantitativ gesehen gibt es diesbezüglich einfach zu wenig, was das Ruder noch mal rumreißen könnte.

Einen um Welten besseren Eindruck hinterließ dann Huesera von Michelle Garza Cervera. Die Koproduktion (Mexiko/Peru) überzeugte sowohl als Drama als auch als Horrorfilm und hatte einige wahrhaft beängstigende Sequenzen im Gepäck. Die Regisseurin legt hier ein sehr persönliches Werk vor, dass stark von ihren eigenen Erfahrungen als junge Frau in Südamerika geprägt ist. Dreh und Angelpunkt der Handlung ist die werdende Mutter Valeria (Mayra Batalla), die im Laufe der Schwangerschaft und darüber hinaus von morbiden Visionen geplagt wird und zunehmend ihr bürgerliches Dasein und ihre heteronormative Lebensführung in Zweifel zieht.

La Huesera
La Huesera

Huesera greift dabei in seiner Erzählstruktur Elemente der mexikanischen Volkssage der Knochenfrau auf und spinnt vor diesem Hintergrund ein zutiefst verstörendes Bedrohungsszenario zwischen klassischen Grusel-Motiven und Body-Horror. Michelle Garza Cervera beschäftigt sich daneben aber vor allem mit den soziologischen und psychologischen Bezugspunkten zum Thema Mutterschaft und Identität. Im Gegensatz zum US-amerikanischen Kino, dass diesbezüglich oftmals arg bemüht den Zeitgeist bedient, fatalerweise aber vergisst echte Charaktere zu entwickeln, gelingt es der Regisseurin hier authentische und insbesondere auch ambivalente Figuren zu zeigen, die gerade durch ihre Uneindeutigkeiten sehr lebensnah wirken.

Ein weiteres Spielfilm-Debüt einer vielversprechenden Nachwuchs-Regisseurin konnte man am Folgetag sehen. Watcher wurde gedreht und geschrieben von Choe Okuno und lässt sich am ehesten als sehr fokussiert inszeniertes Thriller-Kino mit stark europäischer Prägung beschreiben. Es geht um Paranoia, Stalking und das Verloren-Sein in einer fremden Umgebung, die zusehends feindlich gesinnter erscheint.
Der Film erzählt von der jungen Schauspielerin Julia (Maika Monroe), die ihrem Ehemann (Carl Glusman) zuliebe nach Bukarest zieht und die nach und nach glaubt ins Visier eines Stalkers geraten zu sein. Während sie anfangs von ihrem Mann jede Unterstützung erhält, wird ihre Sicht der Dinge im Laufe der Zeit immer mehr angezweifelt. Was ist wahr, was entspringt möglicherweise nur übersteigerten Wahnvorstellungen? Und gibt es einen Zusammenhang mit dem Serienkiller, der eine Blutspur durch die rumänische Metropole zieht?

In der Hauptrolle liefert Maika Monroe (IT Follows) abermals eine erstklassige Leistung ab, aber auch sonst ist Okunos Hochspannungsthriller fast makellos. Mit geradezu elektrisierenden Bildern zieht Okuno die Spannungsschraube immer fester, bis das kurze aber packende Finale in Punkto Suspense noch einmal richtig aufdreht. Definitiv einer der besten Filme des Festivals und eine absolute Empfehlung unserseits.

Watcher
Watcher

Bevor das Fantasy Filmfest die Closing Night mit der koreanischen Tour de force Emergency Declaration von Han Jae-Rim einleitete, konnte man sich mit Piggy noch einen Eindruck davon machen, welche menschlichen Abgründe in der südspanischen Provinz so lauern. Der Film, der in diesem Jahr bereits auf dem renommierten Sundance-Festival und dem britischen Fright Fest aufgeführt wurde, wählt als Hauptfigur die stark übergewichtige Jugendliche Sara (eindrücklich: Laura Galán), die dem Spott der Dorfjugend ausgesetzt ist und immer wieder für deren grausame Spielchen und Hänseleien herhalten muss. Als Sara nach einer besonders heftigen Mobbing-Attacke an der örtlichen Badestelle nur mit ihrem Schwimm-Outfit bekleidet den langen Weg nach Hause antreten muss, macht sie eine folgenschwere Entdeckung. Sara sieht wie ein Mann eben jene Jugendlichen, die sie an diesem Tag gemobbt haben, brutal mit einem heruntergekommen Van entführt.

Ab diesem Moment nimmt Piggy eine entscheidende Wendung, denn der Film den die Regisseurin Carlota Pereda vorher eher als bitteres Mobbing-Drama angelegt hat, wird fortan zum harten Thriller, der sich nicht vor drastischen Einstellungen fürchtet und zartbesaiteten Zuschauern speziell im letzten Drittel durchaus einiges zumutet. Pereda schafft diesen Spagat aber sehr gut, denn die Filmemacherin beweist genügend Feingefühl um den Richtungswechsel nicht zu abrupt zu gestalten. Auch das der Film tonal teils entgegengesetzte Richtungen einschlägt und mitunter überraschend humorvolle Szenen einsetzt ist kein Manko, sondern wertet die spanische Produktion zusätzlich auf.

Piggy
Piggy

Pereda weiß insofern sehr genau welche Elemente wann funktionieren und wie sich diese in das Gesamtbild einfügen. Das Wechselbad der Gefühle, mit dem die Hauptdarstellerin konfrontiert wird, durchlebt daher auch das Publikum mit voller, ungebremster Wucht. Und wenn die letzten Einstellungen der flirrenden Hitze der spanischen Provinz über die Leinwand flimmern ist eines sicher: Piggy ist ein mutiger und intensiver, aber vor allem ein verdammt guter Film.

Insgesamt endet das Fantasy Filmfest also mit so einigen (teils vollkommen unerwarteten) Highlights und wenigen eher verzichtbaren Programm-Titeln. Nach insgesamt acht Festival-Tagen ist man zwar auch ein wenig übersättigt (was angesichts der Masse der Filme kein Wunder ist) freut sich aber gleichzeitig ebenfalls auf die bereits angekündigte Nebenreihe White Nights, die Anfang nächstes Jahr (wieder) stattfinden soll.

Wie auch bei den vorherigen Ausgaben wird ein Großteil der Filme hierzulande von den jeweiligen Verleihern auf Blu-ray/DVD und/oder digital ausgewertet. Einzelne Titel erhalten zudem einen Kinostart (angekündigt ist ganz frisch z.B. die deutsche Kino-Auswertung von Emergency Declaration am 10.11.).

Das Fantasy Filmfest läuft in Hamburg, Köln und Stuttgart noch bis zum 21.09. In Frankfurt und Nürnberg findet das Festival vom 21. – 28.09. statt. Karten können an den bekannten Stellen erworben werden. Alle Informationen unter: https://fantasyfilmfest.com/

Als kleinen abschließenden Tipp möchten wir zudem auf die zahlreichen Interview-Clips aus der Reihe „let’s talk about… fresh blood“ hinweisen, die auf der Online-Präsenz des Festivals abrufbar sind und die teils sehr interessante Einblicke in die entsprechenden Werke und die Herangehensweise der Regisseure und Regisseurinnen liefern. Zu finden unter: https://fantasyfilmfest.com/lets-talk-about-fresh-blood/

André

Großer Kino-Fan mit Vorliebe für das Genre-Kino in all seinen vielseitigen Ausprägungen. Passionierter Festivalgänger, der aber auch die Vorteile des heimischen Filmkonsums zu schätzen weiß.

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