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Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde der Regisseur Ti West mit geradezu überschwänglichen Lobeshymen überschüttet. Zusammen mit Adam Wingard und weiteren Filmemachern aus dem Indie-Segment wurden West und Co. schnell zu den neuesten Newcomern im Low-Budget-Horrorzirkus hochgejazzt. Wie das so oft ist mit Hypes im Filmbusiness, erwies sich der ganze Trubel aber schnell als reichlich übertrieben und nicht wirklich berechtigt. Nichtsdestotrotz sind die Frühwerke von West (The House of the Devil) und Wingard (You´re Next) durchaus ordentliche Genre-Vertreter, die vor allem mit ein paar Jahren Abstand ganz eigene Qualitäten entwickeln.

Während Wingard wie so viele Regisseure vor ihm nach hochgelobten B-Filmen die ganz großen Hollywoodbudgets abgreifen konnte (2021: Regie des Blockbusters Godzilla vs. Kong), verschlug es West nach seinem letzten Film aus dem Jahr 2016 (In a Valley of Violence) in den Serienbereich. West blieb dabei dem Horror-Genre treu und inszenierte einzelne Episoden von Serien wie z.B. Outcast, Chambers oder zuletzt der Amazon-Serie Them. Die ganz großen Jubelrufe blieben hierbei jedoch aus, obwohl vor allem Them zumindest teilweise gute Kritiken einheimste. Dennoch scheint West auch weiterhin von seiner Reputation aus den Anfangstagen zehren zu können. X, so der Titel seines neuesten Films, wurde jedenfalls mit Spannung erwartet.

Die großen Erwartungen hängen jedoch sicherlich auch mit dem Studio zusammen, dass den Film produzierte und das in der Vergangenheit mehr als positiv auffiel. A24 ist nicht nur verantwortlich für einige der besten Horrorfilme der vergangenen Jahre (z.B. Midsommar), sondern hat sich ebenfalls einen Namen für kleine aber feine Indie-Filme (zuletzt: Come on, Come on mit J. Phoenix) gemacht. Was kann da also schon groß schief gehen, wenn man sich an einen weiteren Horror-Stoff wagt und hierbei bereits im Trailer auf der nach wie vor populären Retrofilm-Ästhetik-Welle surft.

Die Handlung des Films ist schnell erzählt. Ein Filmteam (u.a. Mia Goth, Jenna Ortega, Kid Cudi) reist in den siebziger Jahren in einen abgeschiedenen Ort mitten im texanischen Nirgendwo um dort einen preisgünstigen Pornofilm zu drehen. Ziel soll es sein das ganz große Geld zu scheffeln und die Crew in die Star-Liga der Branche zu katapultieren. Anfangs läuft alles wie am Schnürchen. Zwar haust direkt neben dem Drehort ein altes Pärchen, dass ein wenig merkwürdig erscheint, davon abgesehen erweist sich das idyllische Setting aber als optimaler Ausgangspunkt für den avantgardistischen Touch, den der Film einmal haben soll. Da wir hier jedoch einen Horrorfilm vor uns haben wird die Situation für alle Beteiligten irgendwann zu einem blutigen Alptraum, bei dem Regisseur West munter mit Motiven des Slasher-Films und Backwood-Horrors arbeitet, die dann auf der Meta-Ebene immer wieder selbst auf den Prüfstand kommen.

X ist daher auch stets eine Reflexion über die Genres selbst, ihre Mechanismen und ihre zeitgeschichtlichen Bezugspunkte. West geht dabei nicht immer besonders subtil vor. Viele Szenen erahnt man schon lange vorher und die Auseinandersetzung mit den Klischees des damaligen Mitternachtskinos wirkt ebenfalls mitunter ein wenig ziellos. Nichtsdestotrotz gelingt West aber ein überdurchschnittlicher Horrorstreifen, da sein Film ansonsten ziemlich einwandfrei über die Ziellinie brettert. West teilt seinen Film dabei in zwei Schwerpunkte. Steht in der ersten Hälfte der Dreh des Sexfilms im Vordergrund und alle damit einhergehenden Widrigkeiten (die Starallüren des Regisseurs, Eifersüchteleien in der Crew etc.), vollzieht X in der zweiten Hälfte einen sehr deutlichen Wechsel zum handfesten Horror, der die großen Vorbilder aus den siebziger Jahren mehr als einmal deutlich inszenatorisch und inhaltlich zitiert.

X zieht vor allem auf den letzten Metern das Tempo enorm an und liefert dabei einige krasse und teils höchst bizarre Einzelmomente, die sich ins Gedächtnis brennen und lange nachwirken. Eben weil West zumindest im Ansatz mit den mehr oder minder festgeschriebenen Genre-Regeln bricht und dem Publikum einiges zumutet. West bedient diesbezüglich zwar auch die Lust am Schockeffekt, zeigt aber bei den ungewohnt sorgfältigen Charakterentwürfen der Antagonisten, das es ihm ebenfalls darum geht die jeweiligen Verhaltensweisen im Lichte gesellschaftlicher Verhältnisse und Konventionen zu sehen.

X nutzt dabei die altersspezifsichen Gegensätzlichkeiten seiner Protagonisten als Methapern. Auf der einen Seite die Jugendlichkeit und die Unendlichkeit der Möglichkeiten bei der Filmcrew. Und als direkter Kontrast die gezählten Tage der Farmbewohner und ihre körperlichen Gebrechen, die sie im wahrsten Sinne des Wortes verschwinden lassen. Das Begehren aber bleibt und während die einen versteckte Begierden entdecken und sich emanzipieren, mündet das Ausbleiben von Körperlichkeit und Nähe bei den anderen unmittelbar in Terror und Gewalt.

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West entwirft in diesem Zusammenhang in einzelnen Momenten einen erstaunlich zärtlichen, fast schon poetischen Blick auf die Einsamkeit seiner Hauptfiguren. Das ihm dies gelingt und er trotz reichlich überdrehter Sequenzen (im See um die Ecke wartet ein gefräßiges Krokodil) gleichzeitig ein tonal stimmiges Endprodukt abliefert, verdeutlicht das der Filmemacher im Laufe der Jahre einiges dazu gelernt hat. Die hervorragenden Darsteller*innen (allen voran Mia Goth), die effektive Spannungsdramaturgie und der beängstigend gute Soundtrack (Don’t Fear The Reaper von Blue Öyster Cult hat selten besser gepasst) tun ihr übrigens für den insgesamt dann doch sehr guten Gesamteindruck.
X kann deshalb mit Fug und Recht als eines der Genre-Highlights dieses Jahres bezeichnet werden.

Nach seiner deutschlandweiten Premiere bei den diesjährigen Fantasy Film Fest Nights bekam der Film vom Verleiher Capelight im Mai sogar einen regulären Kinostart spendiert. Eine Veröffentlichung auf 4K UltraHD BluRay (mit HDR und allem drum rum), Blu-ray oder DVD ist für den September geplant. Wer den Film auf der großen Leinwand verpasst hat, bekommt somit auch gegen Ende des Jahres die Möglichkeit ihn im Heimkino in den Player zu werfen. Verpassen sollte man Wests wilden Horrortrip jedenfalls nicht.

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André

Großer Kino-Fan mit Vorliebe für das Genre-Kino in all seinen vielseitigen Ausprägungen. Passionierter Festivalgänger, der aber auch die Vorteile des heimischen Filmkonsums zu schätzen weiß.

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