Mord im Orient-Express

Für die Rückreise von einem seiner Fälle nimmt Hercule Poirot (Kenneth Branagh) den legendären Orient-Express. An eine gemütliche Zugfahrt ist aber nicht lange zu denken, stattdessen hat der berühmte Meisterdetektiv bald wieder Arbeit: Ein Passagier wird ermordet und damit ist klar, dass einer der übrigen Reisenden der Täter sein muss. Die spanische Missionarin Pilar Estravados (Penélope Cruz), die Gouvernante Mary Debenham (Daisy Ridley), Professor Gerhard Hardman (Willem Dafoe), die Witwe Mrs. Hubbard (Michelle Pfeiffer) und der Doktor Arbuthnot (Leslie Odom Jr.) sind alle verdächtig. Doch bald wird Poirot klar, dass er den Fall nicht lösen wird, wenn er mehr über die möglichen Täter erfährt. Er muss mehr über das Opfer herausfinden – und sich beeilen, damit der Killer nicht nochmal zuschlägt…

Einsteigen und gut festhalten!

Der Orient-Express ist wohl der berühmteste Zug der Welt und auch in der Filmwelt ist er der Inbegriff für Eleganz und Luxus. Dies dachte sich auch Sidney Lumet im Jahr 1974. Er kreierte einen einerseits dekadent ausgestatteten, aber auch kammerspielartigen Film, garniert mit einem vortrefflichen Starensemble. Dieser Film erhielt den Titel „Mord im Orient-Express“ und orientierte sich stark an der Romanvorlage von Agatha Christie, deren Buchvorlage denselben prägnanten Titel trägt.
Doch um diesen Klassiker soll es in diesem Filmreview nicht gehen, sondern um seine Neuverfilmung, oder vielmehr eine Neuinterpretation der Romanvorlage, welche sich aber nicht von dem 1974 entstanden Film distanzieren kann, um diesen Umstand gleich zu Anfang zu erwähnen, sind die Veränderungen doch eher marginal. Der Einstieg in den neuen Film, bei welchem Kenneth Branagh die Regie führte und auch gleich die Hauptrolle des etwas kauzigen belgischen Detektives Hercule Poirot übernahm wird dem Zuschauer recht einfach gemacht. Mit einer stilistischen Mischung aus Sherlock Holmes, Monk und eben Hercule Poirot wird der Zuschauer gleich in den Orient entführt, genaugenommen Jerusalem. Dort klärt Poirot einen Betrug auf, den er natürlich nach kurzer Zeit aufdeckt und der in einer kleinen Actionsequenz kulminiert, die eine kurze Flucht des Täters zeigt, welcher auch gleich der Auftraggeber war, nämlich der dort ansässige Polizeichef, der ein Verbrechen inszenieren wollte. Zuvor lässt es sich Poirot aber nicht nehmen, bei seinem Frühstück nach einem, von der Größe her, perfekten Ei zu verlangen. Gleich zu Anfang werden zwei Dinge deutlich: Hercule Poirot, so wie ihn Kenneth Branagh verkörpert ist ein außerordentlicher Pedant und zudem allwissend, wie Sherlock Holmes. Dieser Einstieg in den Luxuszug ist zwar von beschwingter Leichtigkeit, jedoch auch von einer Ambivalenz gekennzeichnet. Denn Agatha Christie selbst schrieb: „Das wichtigste Rezept für den Krimi ist: Der Detektiv darf niemals mehr wissen als der Leser“ – oder in diesem Fall der Zuschauer.
Nach diesem Intermezzo, werden nach und nach alle Fahrgäste eingeführt, die teilweise von namenhaften Schauspielern verkörpert werden. Neben Kenneth Branagh, stehen Judi Dench, Johnny Depp, William Dafoe, Michelle Pfeiffer, Penelope Cruz und einige mehr vor der Kamera.
Dabei mangelt es jedoch an Klasse und das ist vielleicht das Problem bei diesem Film, denn wer erste Klasse fährt, möchte nicht in ein Abteil der zweiten Klasse geschickt werden. So ist es aber leider. Da wäre zum Beispiel der cholerische Graf Andrenyi, welcher im Grunde genommen eine Antithese seines Berufes ist, denn obwohl er anscheinend Diplomat ist, löst er jedes Wortgefecht, welches sich denn anbahnt, mit der Faust. Diese unkontrollierten Ausbrüche werden mehrmals präsentiert, bleiben jedoch frei von jeglicher Tiefe und karikieren nicht nur den „Schauspieler“ Sergei Polunin selbst, sondern auch das Ensemble. Auch Tom Bateman als Zugchef „Bouc“ bleibt sehr blass, da er einfach kein wirkliches Profil erhält. Diese Blässe, welche vornehm sein mag und zum Setting des Filmes passt, stellt aber auch gleichzeitig das größte Problem dar. Denn auch nachdem alle Charaktere, oder nennen wir sie lieber „Figuren“ eingeführt worden sind und der Mord, welcher geschieht, nachdem der Zug in einer Schneelawine stecken bleibt, können ihre Karten nicht ausspielen. Sowieso wird vieles zwanghaft dem heutigen Zeitgeist angepasst neuinterpretiert. So avanciert die Schneeverwehung zu einer CGI animierten Lawine, die an Animationsfilme a la „Der Polarexpress“ erinnert. Zudem bleibt der Zug nicht nur stecken, sondern der Zug entgleist und bleibt genau auf einem hohen Viadukt stehen. Dies mag alles spektakulär sein, aber es entzieht dem Film die kammerspielartige, ja klaustrophobische Atmosphäre und lenkt von der eigentlichen Grundhandlung ab.

Falsche Zugreihung und hoffnungslos festgefahren

Denn eigentlich geht es um den brutalen Mord, an Mr. Ratchett aka Mr. Casetti (Johnny Depp), welcher das Mädchen Daisy Armstrong entführt und getötet hat. Doch diese essentielle Geschichte, wird dem Zuschauer vorenthalten und erst Stück für Stück im Film offenbart, wodurch Hercule Poirot einen enormen Wissensvorsprung hat. Der Zuschauer bleibt aber in seiner Unwissenheit schweben. Auch gibt sich Johnny Depp als Ratchett merklich Mühe ernst zu mimen, jedoch wird er zu sehr als Playboy-Gangster inszeniert, der von den Frauen angeschmachtet wird, sodass auch seine Figur vor der Kamera viel zu profillos bleibt. Aber auch weitere renommierte Schauspieler wie Judi Dench, welche die Prinzessin Dragomiroff verkörpert, haben nur wenig Screentime und das Drehbuch ist für die kurzen Auftritte aller Schauspieler nicht gerade wohlwollend und geschickt gestaltet. Dies liegt vor allem an zwanghaft geänderten Dialogen, die zwar immer irgendwie nach der Verfilmung von 1974 klingen, jedoch nie deren Klasse erreichen. Davon können auch das äußerst edle und hochwertige Set design und die wirklich hochwertige, doch oft zu inszenierte Kameraarbeit nicht ablenken.

Mit Volldampf zur Auflösung

Auch wenn das Drehbuch dramaturgisch eher die Notbremse zieht, wird der eigentliche Fall, doch nach einer sehr kurzen und gar nicht mal intensiven Verhörphase sehr schnell gelöst. Dabei wirken die Aussagen aus den Verhören und die Schlussfolgerungen Poirots in sich nicht besonders schlüssig, denn es fehlt an Witz und Bravour, die einzelnen Stränge am Schluss intelligent zusammenzuführen. Das Ende bietet viel Pathos und Poirot muss den Mord im Orient-Express dann auch noch mit einem Streifschuss am Oberarm lösen. Das am Ende alle 12 Fahrgäste, wie die 12 Jünger, an einem großen Holztisch an einem Tunneleingang sitzen, angestrahlt von den Scheinwerfern der Lok und einem Poirot welcher mit einem Revolver in der Hand die Lösung präsentiert ist da nur die Spitze der Schneelawine, in welcher sich diese Neuverfilmung festfährt.
Da die Lösung dieses spektakulären Mordfalls allgemein bekannt sein dürfte, möchte ich auch auf die Inszenierung des Mordes eingehen. Denn wurde dieser in Lumets Film minutiös gezeigt, sodass genau nachvollziehbar war, wer Mr.Ratchett aus welchem Grund töten wollte (als Rache für die Ermordung des Mädchens Daisy Armstrong) wird dieser Mord in der aktuellen Verfilmung in kurzer Zeit gezeigt und dies mit einer avantgardistischen Wackelkamera, sodass der wahre Sadismus hier bei der Inszenierung liegt, die für den geneigten Zuschauer als eigentlicher Sadismus empfunden werden sollte.
Doch auch wenn sich dies alles recht negativ anhört, sollte doch angemerkt werden, dass der Film noch lange kein schlechter Film ist, aber er ist sehr und vielleicht zu solide und das ist das Problem. Letztendlich bleibt alles blass und trotz gediegener Atmosphäre doch sehr farblos. Auch auf der auditiven Ebene fehlt der Reiz. Komponierte Richard Rodney Bennett 1974 für den Orient-Express einerseits ein beschwingt dramatisches Thema, im Stil der 20er und 30er Jahre Musik und additiv noch den Orient-Express Walzer welcher sich dem Tempo des Zuges anpasst, so plätschert die Filmmusik für den 2017er Orient-Express komponiert von Patrick Doyle nur vor sich hin und verhallt wie eine Echo in einem verschneiten Tal.

Mordsspass

Der Neuverfilmung muss auf alle Fälle attestiert werden, dass sie in allen Belangen sehr sorgfältig ist. Sei es das hochwertige Setdesign, die Atmosphäre und Kameraarbeit, oder auch die Schauspieler, die ihre Rollen alle solide spielen aber aus dem viel zu engen Korsett des Drehbuches nicht entweichen können.
Und… Ja, der Film von Kenneth Branagh bemüht sich auch neue Wege zu gehen. Verliert sich dabei aber zu sehr in Details und unwichtigen Handlungssträngen, welche vollkommen irrelevant für die eigentliche Lösung des Falles sind. Zudem wirkt vieles zu Inszeniert, sodass eine oft artifizielle Künstlichkeit entsteht, die dem Film den Charme nimmt, den er haben könnte. Denn letztendlich ist es einfach der Witz und die Selbstironie die fehlen, da der Pathos um die Auflösung, vor dem Hintergrund der Selbstjustiz die allgemeine Stimmung des beschwingten Unbehagens überlagern. Es fehlt einfach an Esprit sowie Schauspielfreude und Poirot, so wie ihn Branagh verkörpert ist etwas zu selbstsicher und etwas zu allwissend, sodass der Zuschauer nie das Gefühl hat, dass der Fall für ihn schwierig zu lösen wäre.
Doch bleibt zu sagen, dass Kenneth Branagh einen eleganten und in der heutigen Kinowelt sehr klassischen Film präsentiert, den man in einer solchen Form auf der großen Leinwand nicht mehr allzu häufig zu sehen bekommt. Wer also gepflegte Unterhaltung wünscht und den Mord im Orient-Express noch nicht bewundert hat, der darf gerne Einsteigen und den „Mordsspass“ genießen – denn mal ganz unter uns gefragt – Wer fährt nicht gerne erste Klasse?

Janek Rekos

Vielen Dank geht an Janek für diesen schönen Gastbeitrag !!!