The Telephone Book

Immer wieder kommt man als Film-Enthusiast an einem bestimmten Punkt an, ab dem man der festen Überzeugung ist, den cineastischen Gipfel endlich erklommen zu haben. Was darauf folgt ist meist Ernüchterung und Langeweile. Was bleibt ist ein Rest an Hoffnung – und zwar die Hoffnung etwas übersehen zu haben. Wie ein Archäologe begibt man sich dann immer wieder auf die Suche nach längst verschollenem Celluloid und beginnt seine Ausgrabungen meist an den Randgebieten der großen Fundstätten. An den Orten, die von normal-sterblichen Filmliebhabern als tot erklärt wurden und von daher gerne übersehen werden. Und hin und wieder, wenn man die Hoffnung fast schon verloren hat, klingelt der Hermes-Mann und bringt einem einen Film wie The Telephone Book.

In der Eröffnungsszene sehen wir ein Standbild der Spirit of Communication Statue (Das ehemalige Wahrzeichen der AT&T – American Telephone and Telegraph Company), die als Spitze eines Wolkenkratzers hoch über der Stadt New York thront. Untermalt wird diese Szene mit vulgären Stöhn-Geräuschen von hunderten von Menschen, was einem von Anfang an einen guten Eindruck darüber vermittelt um was es in The Telephone Book geht – obszöne Telefonanrufe. Alice lebt in einem kleinen Apartment in New York City, dessen Wände mit einer pornografischen Fototapete tapeziert sind. Von der Kamera wird die über die Maßen hübsche Blondine mit den großen Rehaugen meist in lasziven Posen eingefangen. Beispielsweise wenn sie, nur mit knappem Badeanzug bekleidet, ihre Beingymnastik macht oder wenn sie sich (noch knapper bekleidet) auf ihrer Stars and Stripes Bettdecke räkelt. Man könnte sagen Alice ist The All-American Girl, jedenfalls in den feuchten Träumen der Männerwelt.

Als Alice eines Tages einen anonymen Anruf entgegennimmt, den eine Männerstimme mit den Worten „Hello there. I like to talk to you very seriously for a Moment… about your beautiful Tits.“ einleitet, eröffnet sich für sie eine ganz neue Welt der Lustempfindung. Noch nie hat ein Mann jemals so mit ihr geredet. Als sich die Anrufe dann wiederholen und Alice anfängt sich in die obszöne Stimme zu verlieben, möchte sie den Mann am anderen Ende der Leitung gerne kennenlernen und bittet diesen um ein Treffen. Dieser gibt an John Smith zu heißen und im Telefonbuch zu stehen. Also beginnt Alice mit einer Schnitzeljagd durch halb Manhattan, um unter den gefühlt 1.000 John Smith’s, die im Telefonbuch gelistet sind ihren Strippen-Stecher zu finden. Auf ihrer Suche nach der Nadel im Telefonverteiler trifft sie natürlich erst mal auf viele John Smith Imitationen und bugsiert sich immer wieder in sexuell aufgeladene Situationen mit Menschen, die in der hübschen und leicht naiven (aber bei weitem nicht dummen) Blondine das Häschen in der Grube sehen. Dabei gibt der echte John Smith aber immer wieder Hinweise, die Alice ihrem Ziel näher bringen.

Wikipedia deklariert den Film als Independent Sexploitation Comedy Film und das würde ich so auch unterschreiben. Das Nelson Lyon, der später in seiner Karriere als Schreiber für Saturday Night Live aktiv war, einen guten Sinn für satirischen Humor hatte, beweist er schon in seinem Frühwerk The Telephone Book. Immer wieder verschlägt es Alice in skurrile Situationen, die teilweise so surreal und grotesk wirken, dass sie dem Film dadurch einen Kunstfaktor verleihen. Der erste „falsche John Smith Hase“ entpuppt sich als abgehalfterter Stag-Film Darsteller und Alice gerät inmitten einer Orgienszene, die der Künstler als Position 72 ankündigt. Dieser gibt sich übrigens selbst den Künstlernamen (Vorname) Har (Nachname) Poon. Dann gibt es noch einen U-Bahn Exhibitionisten, der von Alice schmutzige Geschichten aus ihrer Vergangenheit hören möchte. Als Gegenleistung bekommt Alice für jedes schlüpfrige Detail eine Münze aus seiner Geldwechselmaschine, die an seinen Gürtel geschnallt ist. Als Alice ihm die Geschichte von einem armen Schlucker, der wegen seiner Dauer-Erektion von seiner Frau verlassen wurde und alles verloren hat, erzählt und wie sie diesem dabei geholfen hat ihn von seinem Problem zu befreien, klingelt die Kasse – bis sich ihr Zuhörer regelrecht leer geschossen hat. (und sie somit wieder genug Kleingeld hat um weiter im Telefonbuch nach ihrem echten John Smith zu suchen).

Der Film ist in kontrastreichem Schwarzweiß gedreht und die Kinematografie ist an die Novel Vague, besonders an die Werke von Jean-Luc Godard angelehnt. Die schnellen Schnitte und die Close-Ups lassen ihn durchgehend sehr kunstvoll erscheinen. Das Leitthema in The Telephone Book ist sicherlich die durch den Ausbau des Telefonnetzes neu aufkommende Möglichkeit der sexuellen Befriedigung durch obszöne Telefongespräche. So wird zwischen der Rahmenhandlung die Szenerie immer wieder durch Interview Passagen unterbrochen, in denen die Interviewten über ihre Erfahrungen mit dem Thema Telefonsex berichten, was dem Film einen mockumentarischen Anstrich verleiht. Die befragten Personen bezeichnen sich meist selbst als Perverse, manche verurteilen die eigenen Handlungen, manche sind mit sich selbst im Reinen. Auch wird hier immer wieder die vierte Wand durchbrochen, um dem Zuschauer seine voyeuristischen Vorlieben schön unter die Nase zu reiben – was heute vielleicht nicht mehr ganz so effektiv ist, aber 1971 durchaus seine Wirkung hatte.

Aber so gut das Konzept und das Drehbuch auch sein mögen, Leben bekommt ein Film natürlich erst durch seine Schauspieler eingehaucht. Und diese hätte man hier nicht besser aussuchen können. Sarah Kennedy, in ihrer Rolle als Alice, ist das Fundament, das diesen Film trägt. Durch ihre extrovertierte Art gelingt es Alice immer wieder, im scheinbar von Perversen überrannten Manhattan, die Oberhand zu behalten. Sie steht hier für die moderne Frau. Mit ihrem hübschen Gesicht, den großen funkelten Augen, dem enthusiastischen Dauerlächeln und der kindlichen hohen Stimme wirkt sie zwar „etwas“ naiv, weiß aber stets genau was sie will und wie sie es bekommen kann. Norman Rose, der den „echten“ John Smith spielt ist ebenfalls ein Volltreffer. In der ersten Hälfte des Films bekommt man eigentlich nur seinen Mund zu sehen und in der zweiten Hälfte, wenn er Alice dann begegnet, trägt er eine Schweinemaske, was den Fokus natürlich weiterhin auf seine Stimme lenkt. Um so wichtiger war es hier natürlich jemanden mit einer ausdrucksstarken Stimme zu finden und da Norman Rose ein bekannter Radiomoderator war, war er für die Rolle natürlich prädestiniert. Die Schweinemaske hat hier zweierlei Bedeutung. Zum einen hält sie den Fokus auf seinem zentralen Geschlechtsorgan, was in seinem Fall der Mund und nicht der Penis ist – zum anderen fungiert sie als eine Art Krone, denn er ist der König der Perversen. Der Guru der obszönen Telefonanrufer. Laut eigener Aussage hat er die Macht jeden zu verführen, sogar den Präsidenten, dessen Frau und auch seine Kinder, aber er betont auch, dass er natürlich keine politischen Ambitionen hat.

Jetzt könnte man hier natürlich auch wieder eine Kritik an einer Gesellschaft hineininterpretieren, die im Laufe des technischen Fortschritts verlernt hat auf traditionelle Weise miteinander zu kommunizieren, bzw. zu interagieren. Gerade in der heutigen Zeit, durch WhatsApp, Dating-Plattformen, Webcam-, Cybersex und co, entwickeln vor allem viele jüngere Menschen eine Sozial-Phobie. So ist auch John Smith nicht mehr in der Lage eine Frau auf traditionelle Weise zu befriedigen.

Der Grund, warum The Telephone Book nach seinem Release im Jahre 1971 kaum Beachtung fand und quasi direkt nach Erscheinen in den staubigen Archiven der Filmgeschichte landete, ist wahrscheinlich Timing. Mit Beginn der New Hollywood Ära, Ende der 1960er Jahre, wurde das Kino zwar freizügiger und die Kritiker aufgeschlossener, aber auch da gab es noch Grenzen. Da Porno Chic erst 1973 in Mode kam (ausgelöst durch Deep Throat, 1972) und der Film eine der letzten, nicht hardcore-pornografischen Mainstreamproduktionen war, die ein X-Rating erhielten (andere Beispiele hierfür sind Asphalt-Cowboy 1969, Uhrwerk Orange 1971), wusste man auch nicht wirklich wo man ihn hin verbuchen sollte. Für den Mainstream war er zu sleazy, für die Grindhouses zu avantgardistisch.

Vielleicht hätte es was genützt, wenn man die Intermission nicht aus dem Film heraus geschnitten hätte. In dieser sitzt Andy Warhol (In Person) in einem leeren Kinosaal und isst Popcorn, solange bis sich der Saal wieder füllt und der Film in die 2. Hälfte geht. Das wäre sicherlich ein gutes Aushängeschild gewesen. Auch wäre es sicherlich förderlich gewesen, wenn Hugh Hefner (der sehr angetan war von dem Film) The Telefone Book als ersten Film, seiner damals neu gegründeten Produktionsfirma Playboy Productions publiziert hätte. Dieser hat sich dann allerdings doch für Roman Polanskis Macbeth (1971) entschieden. Und dann noch etwas aus der Rubrik „unnützes Filmwissen“: In der Schlussszene, in der Alice von John Smith das „Telefonat“ ihres Lebens bekommt, wird der Akt anhand einer pornografischen Animation dargestellt. Fritz the Cat (1972) gilt offiziell als erster Animationsfilm, der mit einem X-Rating eingestuft wurde. Da The Telefone Book allerdings schon ein Jahr früher erschien, müsste eigentlich ihm die Ehre gebühren. Der Film scheint auch Bernardo Bertolucci für seinen Film Der letzte Tango in Paris (1972) inspiriert zu haben. Wenn man sich die Badewannenszene, in der John Smith Alice Haare einschäumt, anschaut weiß man warum.

Normalerweise bin ich mit dem Ausdruck „Geheimtipp“ eher zurückhaltend, da ich finde dass dieser viel zu oft und nur all zu leichtfertig missbraucht wird, aber The Telephone Book ist ein absoluter Geheimtipp!

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Mike

Mike ist leidenschaftlicher Teilzeitcineast und hat sich auf die freizügigere Art des Bahnhofskinos spezialisiert. Von Porn Chic und dem Pinku Eiga der 70er bis hin zum aktuellen erotischen Kinos nimmt er die verruchtesten Filme unter die Lupe.

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