Il poliziotto è marcio / Shoot First, Die Later

Kurzinhalt inkl. Spoiler !!!

Mailand. Der junge und ehrgeizige Kommissar Domenico Malacarne, der Sohn eines aufrechten Polizeibeamten, erhält üppige Bestechungsgelder von den Verbrecherbossen Mazzanti und Pascal, um ihren illegalen Handel mit Zigaretten und Kaffee zu decken. Auf diese Art und Weise bezieht Malacarne, der von seinem Untergebenen Garrito unterstützt wird, jeden Monat 60 Millionen Lire, womit er seine Geliebte Sandra sowie eine wertvolle Kunstgalerie unterhält. Nachdem Malacarne herausgefunden hat, dass die Bosse ihren Geschäftsbereich um Waffen- und Drogenhandel ausgeweitet haben, warnt er sie dafür kein Auge zudrücken zu können. Doch Mazzanti und Pascal bitten ihn stattdessen, eine von einem Neapolitaner namens Serafino Exposito (ausgerechnet bei seinem Vater) eingereichte Anzeige verschwinden zu lassen, die der Polizei dazu verhelfen könnte einen Mordfall aufzuklären, in den die Organisation der Bosse verwickelt ist. Malacarne versucht den Auftrag auszuführen, doch das gestaltet sich schwieriger als gedacht. Nachdem Exposito, seine Geliebte Sandra und sein Vater brutal umgebracht worden sind, stellt sich der Kommissar schließlich gegen die Verbrecherbosse. Letztendlich bekommt Malacarne von Mazzanti die Chance geboten Pascal zu töten, wodurch Mazzanti innerhalb der Unterwelt zu mehr Macht gelangt. Am Ende lässt Mazzanti den Kommissar von Garrito erschießen, der seinen Platz einnehmen soll.

Zwei Jahre nach La polizia ringrazia (Das Syndikat, 1972) war der italienische poliziottesco bereits ein gut entwickelter und profitabler filone gewesen, der seine Einflüsse metabolisiert und eine endgültige Form angenommen hatte. Fernando Di Leos Il poliziotto è marcio kam rechtzeitig als zukunftsweisende Ergänzung, die die destabilisierende und subversive Herangehensweise des Filmemachers an das Genre bereits im provokativen italienischen Titel (der übersetzt so viel bedeutet wie Der Polizist ist verdorben / verkommen) erkennen lässt. Trotz der offensichtlichen thematischen Verwandtschaft ist Il poliziotto è marcio weniger als ein untypisches Beispiel des Genres zu bezeichnen, als vielmehr eine kritische und provokante Antithese dessen. Di Leo greift die Doppeldeutigkeiten und Widersprüche der poliziotteschi auf und betont sie mit der gleichen polemischen Ungestümheit, die er bereits in Il Boss (Der Teufel führt Regie, 1973) an den Tag gelegt hatte, wo der stumpfsinnige Kommissar Torri (Gianni Garko) eine korrupte Marionette in den Händen der Mafia darstellt. Andererseits kam der Regisseur mit dem heroischen Bild von Polizisten, wie es im Genre oft porträtiert wird, nie zurecht, was man an Milano calibro 9 (Milano Kaliber 9, 1972) erkennen kann, wo zwei Kommissare, ein linker (Luigi Pistilli) und ein reaktionärer (Frank Wolff), sich eine harsche Konfrontation in einem langen und explizit politischen Dialogaustausch liefern.

Bei Il poliziotto è marcio scheint sich der Regisseur zunächst an die Regeln zu halten, nur um diese dann auf halbem Weg wieder aus dem Fenster zu schmeißen. Innerhalb der ersten halben Stunde des Films sieht es so aus, als wolle Di Leo dem Publikum einen neuen Helden präsentieren, den es zu feiern gilt. Und zwar in einem spektakulären Crescendo, das in einer Sequenz gipfelt – dem versuchten Banküberfall und der anschließenden atemberaubenden Verfolgungsjagd – die zu den aufregendsten zu zählen ist, die man jemals in einem italienischen Krimi-Action-Film zu sehen bekommen hat. Doch dann zieht der Regisseur seiner Zuschauerschafft den Boden unter den Füßen weg, indem er enthüllt, dass der grimmige Kommissar – der von seinen Vorgesetzten und Kollegen verehrt wird – auf der Gehaltsliste eines verhassten Verbrecherbosses steht, womit er genau die Identifikationsmechanismen untergräbt, die er zuerst etabliert hat. Mehr noch, der „verkommene Bulle“ Malacarne (ein Name, der wörtlich so viel wie „Gammelfleisch“ bedeutet), der die kleinen Fische verhaftet und die großen schützt, weil er es nicht ertragen kann, „nur ein beschissener, hungernder Bulle“ zu sein, hat die appolonischen Züge von Luc Merenda, dem unbestechlichen Giorgio Caneparo aus Sergio Martinos Milano trema: la polizia vuole giustizia (The Violent Professionals, 1973).

In einer ganzen Reihe von ehrlichen und heldenhaften Kommissaren, die die poliziotteschi bevölkern, repräsentiert Malacarne den einzigen wirklichen negativen Antihelden, ein schwarzes Schaf in einer Welt voller Idealisten, die ihren Job als eine Mission ansehen. Malacarne macht sich keine Gedanken über Recht oder Unrecht, er sorgt sich nur um die monatliche Zahlung, die er von Zigarettenschmugglern erhält. „Faule Äpfel“ innerhalb des Polizeiapparates stellen ein wiederkehrendes Element in diesem Genre dar. In La polizia ringrazia wird Enrico Maria Salernos Ermordung vor den Augen seines korrupten Assistenten aufgrund des Durchblicks des von Mario Adorf gespielten Richters ausgeglichen; in La polizia e al servizio del Cittadino? (Auf verlorenem Posten, 1973) wird Giuseppe Pambieri erlöst, indem er einen grausamen Tod erleidet, der die angemessene Strafe für den Verrat an seinen Kollegen und Freunden darstellt. In Il poliziotto è marcio ist die Dialektik zwischen Schuld und Erlösung nur zu offensichtlich, da Malacarne am Ende von seiner rechten Hand Garrito (Rosario Borelli) von Hinten in den Kopf geschossen wird, da der vermutlich seinen Platz einnehmen soll.

Nichts hat sich geändert, nichts wird sich jemals ändern. Di Leo gönnt seinem Anti-Helden keinen kathartischen Weg: Malacarne nimmt Bestechungsgelder an, ohne sich schuldig zu fühlen und als er gezwungen ist, seinem Vater (Salvo Randone), einem älteren Polizeibeamten, die Wahrheit zu offenbaren, macht er keine Ausflüchte. Im Gegenteil, er attackiert seinen alten Herrn verbal mit einem Monolog, der sich in seiner schieren Bösartigkeit heftiger erweist, als alles, was Di Leo je gedreht hat: „Was predigst du mir! Ich habe gesehen, was für ein Leben du geführt hast, indem du anderen den Schmutz von den Schuhen geleckt hast, bis ihre Zehen sichtbar waren! Wie oft musstest du einen armen Kerl zu Tode prügeln, um deine Vorgesetzten glücklich zu machen? Wie viele Männer wurden verurteilt, weil Du irgendeine miese Geschichte erfunden hast und an wie viel Korruption warst Du beteiligt, nur um zu Weihnachten ein lausiges, stinkendes Geschenk besorgen zu können? Doch diese Art von Korruption geht schon in Ordnung, oder?“

Di Leo war ein radikaler Pessimist. Deshalb waren seine Filme im Italien Mitte der siebziger Jahre wahrscheinlich der einzig mögliche Versuch dem Publikum bürgerliches Kino zu bieten, nachdem die lange Welle des zivilen Engagements bereits abgeklungen war. Il poliziotto è marcio ist ein sehr gutes Beispiel für Kino, das sich nicht scheut tief im Schlamm zu wühlen sowie Metaphern hinter sich zu lassen (im Gegensatz zu Elio Petri in La proprietà non è più un furto / Property Is No Longer a Theft, 1973) und zudem auch nicht von Ideologie erstickt wird. Italien ist, wie Esposito (Vittorio Caprioli) in einem Dialog sagt, das Land der Wahl für Mikroben des ganzen Universums: warum also eine unangenehme Notwendigkeit erträglicher gestalten? Di Leo war jedoch zu klug und desillusioniert, um den Weg der schlichten und einfachen Empörung zu wählen. Er zog den Sarkasmus vor. In Il poliziotto è marcio liquidiert der Filmemacher Recht und Ordnung mit ein paar auffallend bissigen Zeilen („Jetzt sollten Sie nicht weniger als 100 oder 200 Leute verhaften. Und vor allem alle Hippies, die Sie finden können. Es ist eine willkommene Abwechslung, nach 30 Jahren, in denen uns die Hände gebunden waren, wieder vorsorgliche Verhaftungen vornehmen zu können, nicht wahr?“), die von einem hochnäsigen, idiotischen Polizeichef geäußert werden, wobei der zweite Satz die typischen Tiraden der Helden des Genres bitter auf den Kopf stellt.

Außerdem bildet er, mit offener Abscheu, eine „respektable“ Wirtschaftskriminalität, die aus mannigfaltigen Schichten und dubiosen Verbindungen besteht, ab: Raymond Pellegrin spielt einen Verbrecherboss, dessen Grausamkeit sich mit seiner enormen Abgestumpftheit paart; Richard Conte ist ein scheinbar sanftmütiger Geschäftsmann, dessen Import-Export-Agentur das Bindeglied zwischen dem korrupten Cop und der Unterwelt darstellt; Gino Milli ist ein gruseliger Transvestiten-Killer (vielleicht eine Anspielung auf I ragazzi del massacro / Note 7 – Die Jungen der Gewalt?), der in einer der unheimlichsten Szenen des Films von Malacarne in einem dunklen Raum beim Tanzen mit seinem Liebhaber ertappt wird, womit Di Leo erneut seine Fähigkeit unter Beweis stellt Themen von sexueller Zweideutigkeit in seine Filme zu integrieren, ohne dabei in lächerliche Klischees abzugleiten. Darüber hinaus wird die Gewalt weder kathartisch noch befreiend in Szene gesetzt, sondern unerwartet grausam und verstörend. Man nehme nur die niederträchtigen Erschießungen aus der Eröffnungssequenz, die weiteren brutalen Hinrichtungen (Esposito wird mit einer Plastiktüte erstickt; Malacarnes Vater wird am Ufer eines Gewässers aus einem Hinterhalt angegriffen sowie kaltblütig ertränkt und Sandra wird fürchterlich verprügelt sowie mit einem Telefonkabel erwürgt) oder das bedrückende Ende in der Gerberei.

Obwohl es sich um einen Auftragsfilm handelt – der erste Film, den Di Leo für den Produzenten Galliano Juso nach einer Geschichte von Sergio Donati gedreht hat – und trotz eines eher schwachen Drehbuchs enthält Il poliziotto è marcio letztendlich einige von Di Leos besten Aufnahmen / Einstellungen und beendete idealerweise einen Zyklus. Nicht nur in der Filmografie des Regisseurs (Di Leo würde mit seinem nächsten Film Colpo in canna / Ich polier‘ dir deine Glatze / Asphalt Katze einen anderen Ansatz wählen), sondern auch im Bereich der poliziotteschi und zwar zu einer Zeit, in der das Genre nach dem Erfolg der Filme von Castellari und Martino sowie dem Niedergang der Mafiafilme seinen endgültigen kommerziellen Erfolg erlebte.

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Alterseinstufung:‎ Nicht geprüft
Aspect-ratio: 1,85:1
Sprachen: Italienisch, Englisch (Linear PMC 2.0 dual mono)
Untertitel: Englisch

Extras und Besonderheiten:

  • New HD transfer from original 35 mm negative print
  • Digitally restored
  • New and improved English subtitle translation
  • Original Italian and English trailer
  • A fully illustrated booklet
  • Documentary: Master of the Game (Il Padrone del Gioco)
  • Documentary: The Second Round of the Game (La Seconda Mano del Gioco)

Bluntwolf

Bluntwolf ist ein Filmliebhaber aus der goldenen Mitte Deutschlands. Sein Spezialgebiet ist das italienische Kino der 60er bis 80er Jahre, insbesondere Italowestern, Giallo und Polizio. Er ist der Chefredakteur von Nischenkino und gehört dem Redaktionsteam der Spaghetti-Western Database an.

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