Almost Blue

Die Polizistin Grazia Negro untersucht in Bologna eine Mordserie an diversen College-Studenten. Der Mörder scheint in der Lage zu sein seine Identität zu wechseln, weswegen er von der Presse „Der Leguan“ getauft wird. Simone, ein blinder Computerfreak, belauscht versehentlich einen Videochat zwischen dem Leguan und dessen neuestem Opfer, wobei es ihm gelingt einen Hinweis auf die Identität des Mörders zu finden. Nun soll er Grazia dabei helfen den Leguan aufzuspüren sowie zu verhaften, doch bevor bei den Ermittlungen Fortschritte gemacht werden können, finden noch ein paar weitere Morde statt.

Nachdem der giallo fast ein Jahrzehnt lang geschwächelt hatte, wurde ihm mit der Veröffentlichung von Almost Blue ein guter Start ins neue Jahrtausend spendiert. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Bestseller (in Deutschland unter dem Titel Der grüne Leguan bekannt) des Autors Carlo Lucarelli, der 1960 in Parma geboren wurde und in den 1990er Jahren Berühmtheit als erfolgreichster und renommiertester giallo-Autor der neuen Generation erlangte. Der Roman Almost Blue (der Titel stammt von Elvis Costellos gleichnamigen Song, von dem der blinde Simone besessen ist) wurde 1997 veröffentlicht und setzt die „Abenteuer“ von Kommissarin Grazia Negro fort, die mit dem Roman Lupo Mannaro (1994) begonnen hatten, dessen Adaption bereits einige Monate vor dem Erscheinen von Almost Blue im italienischen Fernsehen veröffentlicht worden war. Später griff er den Charakter in Un giorno dopo l’altro (Der Kampfhund, 2000), Acqua in bocca (Das süße Antlitz des Todes, 2010), Il sogno di volare (Bestie, 2013) und Léon (2021) erneut auf. Lucarelli erschuf auch eine sechs Bände umfassende, sehr zu empfehlende Serie rund um die Figur des Kommissar De Luca: Carta Bianca (Freie Hand für De Luca, 1990), L’estate torbida (Der trübe Sommer, 1991), La Via delle Oche (Der rote Sonntag, 1996), Intrigo italiano (Italienische Intrige, 2017), Peccato mortale (Hundechristus, 2018) und L’inverno più nero (Der schwärzeste Winter, 2020).

Die De Luca Geschichten sind im faschistischen Italien angesiedelt und sehr ernsten Tones, während Inspektor Coliandros vergleichsweise humorvolle Abenteuer (fünf Bände, beginnend mit Nikita / Das Mädchen Nikita, 1991) als beliebte ironische Serie für das italienische Fernsehen adaptiert wurden. Das Multitalent Carlo Lucarelli versuchte sich auch als Drehbuchautor (er schrieb am Skript für Dario Argentos Non ho sonno / Sleepless von 2001 mit), arbeitete zusätzlich als Fernsehmoderator (er moderierte die beliebte True-Crime-Serie Blu notte misteri d’Italia), sang in der Punkband Progetto K. Lucarelli und widmete sich später der Regie bei der Adaption eines seiner Thriller, L’isola dell’angelo caduto (2012). Doch das Endergebnis soll so enttäuschend gewesen sein, sodass der Streifen nach der Vorführung auf einem Filmfestival in Rom von der Bildfläche verschwand und derzeit auch in keinerlei Heimvideoformat verfügbar ist.

Für die Leinwandadaption von Almost Blue haben giallo-Veteran Sergio Donati und Regisseur Alex Infascelli sowie dessen Bruder Luca den Stoff rationalisiert und somit einen strammen, temporeichen Thriller abgeliefert. Einige Genre-Verfechter zählen den Film allerdings nicht zum filone des giallo, da der Schwerpunkt auf polizeilicher Ermittlungsarbeit liegt und die Identität des Mörders dadurch beinahe als nebensächlich angesehen werden kann. Der Film versucht nicht als Krimi zu fungieren und bemüht sich auch nicht die Identität des Mörders im Verborgenen zu halten, doch die beunruhigende Natur seiner Verbrechen ist weitaus wirkungsvoller geraten als jeder Mystery-Aspekt, wobei der Plot auf den allgemeinen Trend zu einer eher prozeduralen Erzählstruktur hinweist, die das „Genre“ im neuen Jahrtausend dominieren sollte. Selbst Dario Argento war nicht davor gefeit, wie beispielsweise Il cartaio (The Card Player, 2003) beweist. Obwohl in Almost Blue keinerlei twists & turns zur Anwendung gebracht werden, präsentiert sich der Film einprägsam spannungsgeladen und enthält zudem einige schockierende Sequenzen.

Der Mörder ist ein totaler Psychopath, der aufgrund seiner schrecklichen Erziehung zu einem Leben voller Psychosen und Gewalt verurteilt ist, wobei kein Versuch unternommen wird ihn zu humanisieren oder auch nur im Geringsten sympathisch erscheinen zu lassen. Solche Persönlichkeiten kommen oft überzeugender rüber, wenn ihnen eine menschliche Ader verliehen wird, doch glücklicherweise stellt der Mörder in Almost Blue eine willkommene Ausnahme dar. Mit seinem bizarren Aussehen und seinem Hang zur Selbstverstümmelung repräsentiert er einen hoffnungslosen Fall, den man unbedingt wegschließen muss, damit er niemandem jemals wieder Schaden zufügen kann. Die Masche des Mörders die Identität seiner Opfer anzunehmen, führt zu einigen erschreckenden Bildern und verstörenden Details, insbesondere gegen Ende des Films, wenn er zu schockierenden Extremen übergeht. Nicht nur hierbei bekennen sich die Filmemacher zu Lucarellis Liebe zum Detail. Dessen Recherche zur italienischen Polizei und ihrer ganz eigenen Methodik verleiht dem Film einen eher ungewöhnlichen Hauch von Wahrhaftigkeit.

Mit Lucarellis Entscheidung sich auf die Ermittlungen der Polizei zu konzentrieren wird das Klischee vom Amateurdetektiv eliminiert. Seit Mario Bavas La ragazza che sapeva troppo (The Girl Who Knew Too Much, 1963) konzentrieren sich gialli typischerweise auf unglückselige Heldinnen und Helden, die (im Grunde genommen) ganz allein gegen einen verrückten Psychopathen antreten müssen. Bava orientierte sich natürlich an Alfred Hitchcock, in dessen Filmen bekanntlich keine Polizeiarbeit vorkommt, weil er die als zu langweilig erachtete. Dies sollte so etwas wie ein Mantra für die Flut an gialli werden, die sich in den 60er-Jahren und darüber hinaus über die Leinwände ergoss. Das schwächste Element in einigen dieser Filme waren oft die Sequenzen mit polizeilicher Ermittlungsarbeit, die vom „Spaßfaktor“ (natürlich Sex und Gewalt) abzulenken schienen und lediglich als mechanisches Mittel dienten, um die Handlung voranzutreiben. Nicht so in Lucarellis Universum, denn dessen Polizeicharaktere gestalten sich facettenreich und legen bei ihrer Arbeit echte Kompetenz an den Tag.

Der Film verdeutlicht auch das für Lucarellis Arbeit typische Thema der alten Garde gegen die neue Garde. Grazia und ihre Kollegen repräsentieren die neue Garde von Polizisten, die moderne Methoden bevorzugt und deswegen Technologie einsetzt, um dem Mörder auf die Spur kommen zu können. Die alte Garde betrachtet diese Technologie mit Misstrauen und sogar Spott, weswegen sie sich lieber auf „bewährte“ sowie gewohnte Methoden verlassen will. Dieses Thema wurde später in Dario Argentos bereits erwähnten Film Sleepless eingearbeitet, der – eventuell auch aufgrund von Lucarellis Beteiligung – der erste von Argentos gialli gewesen ist, der sich dem prozeduralen Format zuwandte. Alex Infascellis Regieführung offenbart ein Auge für Details und Tempo. Almost Blue legt sofort los und lässt nie richtig nach, wobei den Charakteren jedoch genügend Zeit eingeräumt wird, um ihnen gerecht zu werden. Der Regisseur vermeidet einige der fragwürdigeren Stilmerkmale seiner Zeitgenossen und verleiht dem Film eine reichhaltige, filmische Textur, die zwar gelegentlich an gialli aus der Vergangenheit erinnert aber dennoch im Stande ist ihren Platz als moderne Variation des Themas zu behaupten.

Infascelli und sein Kameramann Arnaldo Catinari erschaffen unvergessliche Bilder und verstehen es bestens das Breitbildformat zu nutzen. Dennoch ist es des Regisseurs Gespür für kleine Details, das am meisten im Gedächtnis hängen bleibt: sei es die Aufnahme, in der der Mörder mit seinen nackten, blutbesudelten Füßen in ein Paar Turnschuhe schlüpft oder der grässliche Anblick seiner blutverschmierten Hände, die auf einer Tastatur tippen. Das Finale erweist sich zu gleichen Teilen als spannend sowie emotional berauschend, was nicht zuletzt den sympathischen Charakteren zu verdanken ist, die in einer äußerst angespannten Situation gefangen sind. Lorenza Indovina verkörpert Grazia Negro wirklich hervorragend, indem sie sehr gut darin ist, den inneren Kampf der Figur widerzuspiegeln, die gleichzeitig ihr Bestes geben muss, um ihre Autorität ihren sexistischen Mitmenschen gegenüber durchsetzen zu können. Wie Asia Argentos Anna Manni aus La sindrome di Stendhal (Das Stendhal Syndrom, 1996) gilt sie als eine der ersten richtig komplexen weiblichen Polizeifiguren, die im giallo zu finden sind.

Indovina kam Anfang der 1990er Jahre zum Film, wo sie einen ihrer ersten kleinen Auftritte in Ricky Tognazzis exzellentem Krimi La Scorta (Die Eskorte – Im Visier der Angst, 1993) hatte. Im italienischen Film- und Fernsehbereich ist sie nach wie vor eine sehr gefragte Schauspielerin und hat sich auch als Regisseurin versucht, indem sie bislang zwei Kurzfilme drehte. Claudio Santamaria liefert eine bewegende Darstellung als blinder Simone ab, der Grazia bei ihrer Suche nach dem Täter unterstützt. Santamaria verzichtet auf billige Sentimentalitäten und macht aus der Figur einen vollständig realisierten Menschen, der zu Anfang als ein eher zwiespältiger Typ rüberkommt, nach und nach aber immer sympathischer wird. Das Publikum kann nicht anders, als Mitgefühl für ihn zu empfinden, als seine Versuche der Polizei zu helfen sein eigenes Leben in Gefahr bringen. Santamaria gab 1997 sein Filmdebüt und etablierte sich dank Erfolgsfilmen wie L’ultimo bacio (Ein letzter Kuss, 2001), als beliebte Präsens im italienischen Kino. Anschließend trat er in Filmen wie Dario Argentos Il cartaio (2003) und dem James-Bond-Film Casino Royale (2006) auf.

Alex Infascelli wurde 1967 in Rom geboren und stammt aus einer Familie von Filmemachern. Sein Vater war der Produzent/Autor/Regisseur Roberto Infascelli (La polizia sta a guardare / Der unerbittliche Vollstrecker, 1973), sein Onkel Paolo Infascelli arbeitete ebenfalls im Produktionsbereich der Filmbranche (er war Produktionsleiter bei La donna della domenica / Die Sonntagsfrau von 1975) und sein Großvater war der Produzent Carlo Infascelli. In seinen Zwanzigern zog es Alex in die USA, wo er hoffte in der Rockmusikszene groß rauszukommen. Schließlich kehrte er nach Italien zurück, wo er eine Karriere im Filmgeschäft begann. Sein Regiedebüt gab er mit einem Segment (Vuoto a rendere) in der Horror-Anthologie DeGenerazione (1994), wohingegen Almost Blue sein offizielles Solo-Regiedebüt markiert und ihm einen David di Donatello Award als bester Newcomer im Bereich der Regie einbrachte. Leider sollte seine filmische Zukunft nicht so rosig verlaufen, wie erwartet.

Sein Nachfolgefilm Il siero della vanità (The Vanity Serum, 2004) scheiterte an den Kinokassen, während seine Karriere aufgrund der Vermarktung seines späteren Horrorfilms H2Odio (Hate2O, 2006, den er eigenständig drehte und unabhängig über Zeitungskioske vertrieb) mehr oder weniger zum Erliegen kam. Laut Infascelli brachte ihn der Erfolg dieses Unterfangens in große Schwierigkeiten mit dem Produktionssystem, woraufhin er inoffiziell auf die schwarze Liste gesetzt wurde. Er konnte sich zwar sporadische Jobs im italienischen Fernsehen sichern, verdiente dort aber nicht genügend Geld, um seine Familie ernähren zu können und fing deswegen an in einem italienischen Restaurant als Kellner zu arbeiten. Man kann nur hoffen, dass er sich beruflich eventuell wieder erholt, denn als Filmemacher hat er großes Potenzial und scheint das „Genre“ sehr gut zu verstehen.

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Seitenverhältnis: ‎16:9 – 2.35:1
Regisseur:‎ Alex Infascelli
Medienformat:‎ Import
Laufzeit: 1 Stunde und 26 Minuten
Darsteller: Claudio Santamaria, Lorenza Indovina, Rolando Ravello, Andrea Di Stefano, Benedetta Buccellato
Untertitel: Italienisch, Englisch
Sprache: Italienisch (Dolby Digital 5.1)
Studio: ‎Cecchi Gori Home Video

Bluntwolf

Bluntwolf ist ein Filmliebhaber aus der goldenen Mitte Deutschlands. Sein Spezialgebiet ist das italienische Kino der 60er bis 80er Jahre, insbesondere Italowestern, Giallo und Polizio. Er ist der Chefredakteur von Nischenkino und gehört dem Redaktionsteam der Spaghetti-Western Database an.

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