Verstehen Sie Bahnhofskino?

Bahnhofskino

Das vielleicht deutscheste aller Filmgenres, oder doch nur ein Ort? Wir begeben uns passend zum angelaufenen #Deucember auf eine kurze Reise in die Vergangenheit und stellen euch ein Thema vor, das Euch ein Begriff sein sollte: Das Bahnhofskino. Wie es der Zufall will, sind wir natürlich bei weitem nicht die einzigen, die Fans des Bahnhofskinos sind (wir kommen ja gleich dazu was das ist, habt Geduld), daher fragen wir am besten die Experten. Das Interview richtet sich vor allem an Neulinge, aber wir wünschen auch alten Hasen viel Spaß beim Lesen.

Heute begrüßen wir Patrick Lohmeier und Daniel Gramsch vom Podcast Bahnhofskino im Nischenkino Vorführraum, wir nehmen Platz auf einem Stapel alter VHS Kassetten, schieben die Schulmädchen Report Postersammlung beiseite und machen uns ein Bier auf. Im Hintergrund läuft eine Piero Umiliani Platte.

Wie würdet ihr jemandem erklären, was „Bahnhofskino“ ist?

Patrick: Letztendlich hat das, was wir heute als Bahnhofskino oder als typischen Bahnhofskinofilm beschreiben, wenig mit dem zu tun, was diese Art von Lichtspielhaus in seiner Blütezeit der 50er Jahre einmal war. Nämlich eine Möglichkeit für Reisende, sich während des Wartens auf den Anschlusszug mit einer Wochenschau und amüsanten Kurzfilmen die Zeit zu vertreiben. Zumindest in vielen westdeutschen Großstädten. „Bahnhofskino“ wurde aber eher umgangssprachlich genutzt. Die Kinobetreiber selbst bevorzugten Bezeichnungen wie Bahnhofslichtspiele (BaLi) oder auch Aktualitätenkino (AKI), mit Verweis auf die dort gezeigten Neuigkeiten aus aller Welt. Letztendlich war die wachsende Popularität des Fernsehens dafür verantwortlich, dass seit den 60er Jahren zunehmend reißerische Filme mit schmissigen Titeln im Bahnhofskino gezeigt werden, die zum Kinobesuch verlocken sollten. Nachrichten guckte man mittlerweile im Fernsehen und vom neuesten Kinohit wollten die meisten Menschen wohl mehr als 20 Minuten sehen, bevor sie in den nächsten Zug stiegen. Der Entschluss, dem geneigten Publikum knallharte Western und krachlederne Klamotten zu zeigen, war also vor allem eine wirtschaftliche Notwendigkeit.

Aki - Bahnhofskino

Daniel: Spätestens ab den 80ern wurden viele Bahnhofskinos ja mehr und mehr zu reinen Sexkinos umgestaltet – also zumindest am Bahnhof Zoo in Berlin, wo einige dieser Art noch bis in die frühen 2000er dahinvegetierten. Im Sinne unseres Podcasts steht der Begriff eben für Genre-Unterhaltung, gerne jenseits großer Studioproduktionen, die mindestens ebenso eine filmische Analyse rechtfertigt wie die kanonischen Titel der Filmgeschichte.

Patrick: Genau. Wir begreifen „Bahnhofskino“ tatsächlich eher weiter gefasst und etwas abstrahiert als Überbegriff für eine vom Feuilleton abgewatschte und vom Publikum belächelte Form des Unterhaltungsfilms, dem wir Respekt zollen wollen. Dies tun wir mit einer gewissen Ernsthaftigkeit und akademischen Background, was aber nicht heißen soll, dass wir Fahnenträger für schlechtes(?) Kino sind. Wenn ein lieblos inszenierter Reißer sein hässliches Gesicht zeigt, knurren wir angemessen zurück.

Bahnhofskino

Der Podcast

Im Bahnhofskino geht es seit 2012 (fast) jede Woche um zwei Spielfilme aus der großen, weiten Welt des Genrekinos. Die Herzen von Patrick und Daniel schlagen besonders hoch für das Kino der 70er, 80er und frühen 90er Jahre, als die meisten Kinos nur eine Leinwand hatten und die Videotheken zahlreich waren. Rezensionen und Themen-Podcasts zu hunderten großer und kleiner Meisterwerke aus den Bereichen Science-Fiction, Horror, Action, Exploitation und Psychotronik findet ihr im Bahnhofskino Podcast Archiv. Hier gehts zur offiziellen Website.

Wo seht ihr Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu Begriffen wie Grindhouse, Exploitation, Drive-In?

Patrick: Als Begriff für eine bestimmte Art von Film – in der Regel schnell produzierte, inhaltlich oft austauschbare Filme mit einem gesunden Maß an Action, Sex und Gewalt – ist Bahnhofskino mittlerweile fast austauschbar mit dem, was wir als Grindhouse oder Exploitation Cinema begreifen. Ein Grindhouse Theatre ist streng genommen dem Bahnhofskino noch am nächsten. Und beiden machte die anderweitige Verfügbarkeit reißerischer Unterhaltung ab den 80er Jahren in Kabel- und Privatfernsehen und natürlich Videotheken den Garaus.

Daniel: Die ersten Videothekentitel speisten sich ja vor allem aus den Bereichen Karate/Kung Fu, Italo-Western, Sex & Crime – also ziemlich genau die gleichen Genres wie im Bahnhofskino, die man dann auch wieder in Grindhouse, Exploitation, Blaxploitation, Sexploitation etc. unterteilen kann. Entsprechend sind diese, genauso wie auch B-Movies aus den 50ern und 60ern, die die Drive-Ins bevölkerten, auch gern gesehene Vertreter in unserem Podcast-Format.

In welcher Hinsicht ist Bahnhofskino ein Ort, und in welcher Hinsicht ein Genre?

Daniel: „Bahnhofskino“ als Genre empfinde ich persönlich als ebenso verkehrt wie „Grindhouse“ – ein Krimi ist ein Genre, ein Western, die Sexklamotte. „Bahnhofskino“ wäre für mich Metier, Film das Medium. Allen gemein wären die schnellen und durchaus besonderen Thrills, sozusagen das Salz in der Suppe. Und der Ort bestimmte, zumindest als es ihn noch gab, die Erzählform.

Patrick: „Bahnhofskino“ wurde ja erst zu einem mehr oder weniger geläufigen Oberbegriff für eine bestimmte Form der Kinounterhaltung als der Ort Bahnhofskino aufhörte zu existieren, also 80er Jahre aufwärts. Leider besteht mittlerweile die Tendenz, als unzeitgemäß oder „trashig“ – ich hasse dieses Wort – wahrgenommenes Kino unserer Elterngeneration schnell in die Schublade Bahnhofs- oder Schmuddelkino zu stecken. Das ist grundlegend falsch. Heute werden beispielsweise die damaligen Sexfilme oder Bud Spencer/Terence Hill-Komödien vielerorts wohlwollend amüsiert und letztendlich abschätzig betrachtet. Aber in den 70er Jahren lockten sie unzählige Zuschauer in die Kinos. Der erste Schulmädchen-Report (1970) über sieben Millionen. Das schafft heutzutage keine Til Schweiger-Komödie oder Superheldenfilm. Und in Bahnhofskinos liefen solche Blockbuster zum Zeitpunkt ihrer Premiere schon mal gar nicht.

Bahnhofskino

Das ging ja soweit, dass speziell für Bahnhofskinos Filme produziert wurden. Was sind Beispiele?

Patrick: Vieles, was heute zu Unrecht in die Bahnhofskino-Schublade gesteckt wird, waren tatsächlich professionell und teils aufwändig produzierte Genrefilme aus dem europäischen Ausland, die alleine aufgrund ihrer gewalttätigen und sexuell aufgeladenen Inhalte nicht den Weg in die großen Lichtspielhäuser in den Innenstädten fanden. Ein Stigma, das brillante Filmemacher wie Lucio Fulci oder Sergio Corbucci hierzulande außerhalb von Liebhaberkreisen bis heute nicht loswerden. Natürlich fand sich im Bahnhofskino aber auch viel schnell und billig produzierte Schmuddelware. Für Django Nudo und die lüsternen Mädchen von Porno Hill (1968/1970) schnitt man Sexszenen in den eher drögen B-Western Brand of Shame und adelte ihn mit einer Schnoddersynchro. Die unglaubliche Popularität sog. Aufklärungsfilme der späten 60er und frühen 70er wie die Oswalt Kolle-Filme und Reports ebneten den Weg für schnell und günstig abgedrehte Softsexstreifen à la Hausfrauen- und St. Pauli-Report. Für jedes Mondo-Meisterwerk von Prospero & Jacopetti oder Deodato gab es zehn Gesichter des Todes (1978) oder Notti Porno Del Mondo (1977). Was nicht heißen soll, dass auch vergleichsweise krude Exemplare des Exploitationkinos wie Lebendig gefressen (1980) von Umberto Lenzi oder Jungfrau unter Kannibalen (1980) von Vielfilmer Jess Franco reizlos sind. Der Trend, aus einem populären Subgenre mit preiswert produzierten Ripoffs Profit zu schlagen, lässt sich freilich genauso in Bereich der Söldnerstreifen, Horrorfilmen oder Western dieser Zeit beobachten und ist mitnichten einzigartig für diese Zeit.

Kennt ihr selber Bahnhofskinos oder seid ihr dafür zu jung?

Daniel: Ich kenne nur noch die erwähnten Sexkinos rund um den Zoologischen Garten, in denen dann uralte Pornos gezeigt wurden. Die hatten vermutlich nur noch bedingt mit Zugreisenden zu tun.

Patrick: Geht mir ähnlich. Ich kam Ende der 70er, also pünktlich zum Tod der Bahnhofskinokultur zur Welt. Und in Würzburg, wo ich meine Kindheit verlebte, gab es nie ein solches.

Was begeistert euch bis heute daran?

Patrick: Also am Bahnhofskino als besondere Spielart des Genrefilms? Es ist eine filmhistorische Schatztruhe, in der es viele sehenswerte – wenn auch im nicht klassischen Sinne hochwertige – Perlen zu entdecken gilt. Gelegentlich findet man im Bahnhofskino aber auch echte Kunst, beispielsweise Blutiger Freitag (1972) von Rolf Olsen, Sie tötete in Ekstase (1971) des bereits erwähnten Jess Franco, der Coffin Joe-Film À Meia-Noite Levarei Sua Alma (1964), große Teile des Werkes von Enzo Castellari, Joe D’Amato oder Roberta Findlay. Aber ich höre jetzt auf, sonst sitzen wir morgen noch hier.

Daniel: Grundsätzlich bin ich der Meinung, jeder Film hat es verdient, analysiert zu werden – und da ich als Comiczeichner und Filmwissenschaftler doppelt belastet bin mit der Pflicht, ständig mich ob meiner Interessen zu rechtfertigen, halte ich nicht viel von der noch immer gehegten Unterscheidung zwischen Hochkultur und Schund hierzulande. Genrekino finde ich vor allem deshalb faszinierend, weil hier Abstraktionen von Geschichten mit oftmals billigen Mitteln erzählt werden, die soziokulturelle Relevanz haben, die aber gerne aufgrund der Machart übersehen wird.

Wie entstand euer Podcast?

Patrick: Vor unserem gemeinsamen Podcast war war ich recht umtriebig in Filmforen und startete 2005 mein eigenes Blog, das sich dem Kino aus der zweiten Reihe verschrieben hatte. Besonders produktiv war ich darin aber nie. Auch nicht, nachdem ich „Lohmi’s Grindhouse“ – keine Witze bitte! – einige Jahre später in „Bahnhofskino“ umbenannte. Etwa zur gleichen Zeit begann ich damit, englischsprachige Filmpodcasts wie The Gentlemen’s Guide to Midnite Cinema oder The Projection Booth zu hören, die genau die Art von B-Kino mit der Wertschätzung behandelten, die ich mir auch im deutschsprachigen Raum wünschte. Solch einen Filmpodcast gab es aber nicht, weswegen ich selbst einen gründen wollte. Daniel und ich waren damals beim selben Arbeitgeber und teilten eine große Leidenschaft und akademisches Interesse für das Thema Film. Viel mehr aber auch nicht. Und von den technischen Herausforderungen des Mediums hatten wir schon mal gar keine Ahnung. Zumindest, als wir 2012 die erste Podcastfolge zu Bullet in the Head (1990) und Last Man Standing (1996) aufnahmen. Im Laufe der Jahre wuchs unsere Freundschaft und – hoffentlich! – die Qualität der Gespräche. Die Filme werden uns jedenfalls nie ausgehen.

Bahnhofskino bei Spotify

Was sind gute Bücher die man zum Thema lesen kann?

Patrick: Christian Keßler macht sich als Autor rund um abseitige Klassiker und Kuriositäten der Filmgeschichte seit Jahrzehnten verdient, früher als Splatting Image-Autor und mittlerweile mit regelmäßigen Buchveröffentlichungen. Das wilde Auge (1997) und sein neuester Wälzer Gelb wie die Nacht (2020) über den italienischen Thriller sind da beispielhaft zu nennen. Auch von Martin Hentschel gibt es Lesenswertes, unter anderem zu den in den 70ern sehr populären Kumpelfilmen. Das Standardwerk zur Blütezeit der amerikanischen Grindhouse-Kultur der 60er bis 80er Jahre ist vermutlich Sleazoid Express: A Mind-Twisting Tour through the Grindhouse Cinema of Times Square (2002), benannt dem gleichnamigen Magazin, von Bill Landis und Michelle Clifford. Wenn man des Englischen mächtig ist, empfehle ich einen Blick auf die Veröffentlichungen von Fab Press, meinem Lieblingsverlag zum Thema psychotronisches Kino. Und aus München kommt das wundervolle Fanzine SigiGötz Entertainment, in dem es regelmäßig um die Lichtgestalten der goldenen Bahnhofskino-Ära und deren Filme geht.

Bahnhofskino

Was sind eure Lieblingsfilme im Genre? Was ist vielleicht der prototypische Bahnhofskino-Film den ihr immer wieder mal guckt um euch in Bahnhofskino-Stimmung zu bringen?

Daniel: Aufgrund der vielen Filme, die wir jede Woche für den Podcast gucken, ist das mit dem „immer wieder gucken“ schwierig. Aber auch ohne Aufnahme sehe ich zwischendurch gerne alte B-Movies wie Day of the Triffids (1962) oder It Came From Outer Space (1953), Hammer-Horror oder Vincent-Price-Klassiker und meine persönlichen Lieblinge Russ Meyer und John Waters.

Patrick: Ich bin eigentlich immer in Bahnhofskino-Stimmung. Mit der Nennung von Lieblingsfilmen tu ich mich seit jeher schwer. Mein Geschmack zeigt aber schon recht deutlich Richtung Italien, wenn ich mich nach sleaziger Unterhaltung sehne. Corbucci, Fulci, Argento, Bava, Dallamano, di Leo, Castellari… wobei ich diese Künstler alle für – zumindest innerhalb meiner Bubble – längst rehabilitiert halte. Andere Filmemacher wie Umberto Lenzi oder Schlock-Zampano Bruno Mattei müssen um diesen Respekt noch kämpfen. Aber um jetzt nicht weiter eure Zeit mit Name-dropping zu verschwenden, nenne ich mal Wenn du krepierst, lebe ich! (1977) des unterschätzten Pasquale Festa Campanile mit einer Besetzung zum Niederknien – unter anderem Franco Nero, Corinne Cléry und David Hess.

Nehmt ihr eine Zunahme des Interesses für den Schmuddelfilm vergangener Tage wahr?

Daniel: Durch die Filme von Quentin Tarantino und Robert Rodriguez gab es zeitweise zunehmendes Interesse an den von ihnen referenzierten Filmen, Klassikern des Bahnhofskinos, wenn man so möchte. Aber vor allem die „mit ner Kiste Bier wird’s lustiger“ Fraktion, die sich amüsiert, wenn’s so richtig doof wird, nimmt meiner Ansicht nach überhand. Klar kann es spaßig sein, mit Freunden einen Film zu kommentieren, aber wenn das der einzige Grund ist, den Film zu sehen, habe ich zumindest keinen Spaß mehr. Und bei sowas wie Kung Fury (2015) oder intendiertem Trash à la Sharknado (2013) steige ich völlig aus.

Patrick: Ich bewerte das gefühlt wachsende Interesse auch kritisch mit Blick auf ein von Daniel erwähntes Publikum, das diese im besten Sinne unzeitgemäße Kinounterhaltung kategorisch durch die SchleFaZ-Brille betrachtet. Die Nische für abseitige Cinephilie wächst, an der breitenwirksamen Wertschätzung mangelt es wie eh und je. Alles in allem aber geht der erfreuliche Trend seit einigen Jahren in Richtung kritische Neubewertung und Rehabilitation. Und frühere „Schmuddelfilme“ erfahren immer öfter in liebevoll ausgestatteten Heimkino-Veröffentlichungen eine späte Ehrung. Wobei die Navigation durch das abseitige Genrekino auf DVD und Blu-ray aufgrund der Vielzahl der Titel und der teils zweifelhaften technischen Qualität mittlerweile eine echte Herausforderung darstellt.

Vielen Dank für das Interview, und wir empfehlen allen unseren Lesern einen oder regelmäßige Besuche beim Bahnhofskino Podcast! Schon abonniert?

Ein paar weiterführende Links haben wir ausgegraben:

Dieser Artikel ist anlässlich des diesjährigen #Deucember entstanden. Eine englischsprachige Übersetzung findest Du hier.

Sebastian

Gründer und Inhaber von Nischenkino. Gründer von Tarantino.info, Spaghetti-Western.net, GrindhouseDatabase.com, Robert-Rodriguez.info und FuriousCinema.com

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