Bleigewitter über Cinecittà: Gangster und Polizisten im italienischen Kino von 1960–1984

Die Nachkriegsgeschichte Italiens wurde geprägt von einer unheiligen Verzahnung unterschiedlicher Interessen: Politik, Wirtschaft und organisiertes Verbrechen arbeiteten nicht selten Hand in Hand, wenn es darum ging, dem einfachen Bürger sein sauer Erspartes abzupressen. Auf der Leinwand resultierte das in zahlreichen Kriminalfilmen, in denen todesmutige Streiter für Recht & Ordnung alles daran setzten, die Flut an Verbrechen einzudämmen. Filmjournalist Christian Keßler widmet seinen neuesten Streifzug diesen sehr unterschiedlichen, häufig kontroversen, aber immer aufregenden Leinwandepen. Mit Franco Nero, Maurizio Merli und vielen anderen Teufelskerlen begab er sich auf Streife, tief in die italienische Nacht. Das Ergebnis ist dieses Buch, das auf 360 Seiten insgesamt 219 Filme besingt, sowohl anerkannte Meisterwerke, aber auch ungeschlachte Rabauken, die eines gemeinsam haben – sie machen uns ein Angebot, das wir nicht ablehnen können … (Martin Schmitz Verlag)

Christian Keßler gehört zu unseren Lieblingsautoren, denn wir mögen seinen einzigartigen Schreibstil sehr. Der zeichnet sich nämlich durch des Autors ausgefallenen Sinn für Humor, Subtilität und Zynismus aus. Mit diesen Zutaten würzt Keßler nach Wurmparade auf dem Zombiehof, Der Schmelzmann in der Leichenmühle, Die läufige Leinwand – Der amerikanische Hardcorefilm von 1970 bis 1985, Das versteckte Kino sowie Endstation Gänsehaut: Eine persönliche Reise durch das Horrorkino, Gelb wie die Nacht: Das italienische Thrillerkino von 1963 bis heute und Hollywood Blackout – Sternstunden des amerikanischen Noir-Kinos (1941–1961) auch sein aktuelles Buch Bleigewitter über Cinecittà: Gangster und Polizisten im italienischen Kino von 1960–1984. Diesmal rekonstruiert der Autor die Entwicklung des Poliziottesco-Films von 1960 bis 1984 und seine damit verbundenen filmischen Erlebnisse und Erfahrungen.

Keßler surft mit traumwandlerischer Sicherheit durch den filone sowie dessen verschiedene Sub-filones – vom „klassischen“ Poliziottesco über den sogenannten Poliziesco mit direktem Mafia- oder Camorra-Bezug und einigen Genre-Hybriden, bis hin zu erstklassigen Politthrillern. Selbstverständlich versteht es der Autor bestens diese durchaus sehr unterschiedlichen Filme wie Die Banditen von Mailand, Dealer Connection – Die Straße des Heroins, Die Klette, …a tutte le auto della polizia…, Feuerstoss, Napoli … serenata calibro 9, Gewalt rast durch die Stadt, Der Gorilla, Kaliber 38 – Genau zwischen die Augen, San Babila, 20 Uhr: Ein sinnloses Verbrechen, Il grande racket, Camorra – Ein Bulle räumt auf, Das Syndikat, Milano trema: la polizia vuole giustizia, Manhunt in the City, Der Vernichter, Heroin, Der unerbittliche Vollstrecker, In den Klauen der Mafia, Tote Zeugen singen nicht, Die Gewalt bin ich, Die Viper, Die Killermeute, Die Gangster-Akademie, Die Ratten von Milano, Note 7 – Die Jungen der Gewalt, Betrachten wir die Angelegenheit als abgeschlossen, Auge um Auge, Die gnadenlose Jagd, Höllenhunde bellen zum Gebet, Der große Kampf des Syndikats, Machine Gun McCain, Si può essere più bastardi dell’ispettore Cliff?, Gangster sterben zweimal, Der Superbulle mit der Strickmütze, Ein Bürger setzt sich zur Wehr, Highway Racer, Fango Bollente – Die grausamen Drei, Killer Cop, Kommissar Mariani – Zum Tode verurteilt, Milano Kaliber 9, Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert, Eiskalte Typen auf heißen Öfen, Feuertanz, Der Berserker, Provinz ohne Gesetz, Der Teufel führt Regie, Hetzjagd ohne Gnade, Das Schlitzohr und der Bulle, Die Killermafia, Die letzte Rechnung schreibt der Tod, Die Kröte, Ich heiße John Harris, Blut eines Bullen, Die Zuhälterin, 1931 – Es geschah in Amerika, Die Weiße Mafia und Die Rache des Paten innerhalb des „Genres“ einzuordnen.

Man muss mit dem Autor nicht immer einer Meinung sein, um sich über die großzügig auf jede Seite gestreuten prägnanten Formulierungen zu freuen. Christian Keßler schreibt frei von akademischem „Ballast“ und kann sich auf sein beeindruckendes filmisches Wissen verlassen, das es ihm erlaubt, zu jedem Flick, wo nötig, ein halbes Dutzend Referenzpunkte anzuführen. Dass man sich beim Lesen in den zahllosen Verknüpfungen nicht verliert funktioniert erstaunlich gut. Diesmal bittet Keßler allerdings um Verständnis, wenn er seinen „ohnehin zum Flaps neigenden Schreibstil“ in diesem Buch sogar noch mehr als in seinen letzten Werken „vom filmtheoretischen Gardemaß entfernt“ hat. Seinen Lesern verspricht er „hier und da ordentlich auf die Pauke zu hauen„, sich jedoch „bei den Meisterwerken von Francesco Rosi, Elio Petri oder Damiano Damianischon eher unter Kontrolle zu haben, „als etwa bei Andrea Bianchis Die Rache des Paten und seinen ebenso unbegreiflichen wie wundervollen Exzessen.“

So dokumentiert Bleigewitter über Cinecittà: Gangster und Polizisten im italienischen Kino von 1960–1984 nicht nur die „klassischen“ Poliziotteschi, die Konstanten, die Politthriller und die sogenannten Grenzgänger des Poliziottesco-Films, sondern auch eine ausdauernde Begeisterung für das Genrekino, die sich ohne Weiteres auf den Leser überträgt. Eine Wahrnehmung scheint sich für Keßler (ähnlich wie bei Gelb wie die Nacht) durch die gesamte Geschichte des filone zu ziehen: die zentrale These des Poliziottesco in Film und Literatur ist, dass die Welt letztendlich ein noch unsicherer Ort ist, als allgemein angenommen wird, oder dass auch die scheinbar Normalen die wahren Verbrecher sein können. Das ist so banal wie nachvollziehbar und liefert eine erste Erklärung dafür, dass der Poliziottesco nach wie vor und immer wieder ein Publikum findet, dem die oftmals enorm realitätsbezogenen oder (im direkten Gegensatz dazu) comicstyle-artigen Bilder im Wortsinn etwas bedeuten.

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Herausgeber: Martin Schmitz Verlag; New Edition (1. November 2023)
Sprache: Deutsch
Gebundene Ausgabe: 360 Seiten
ISBN-10:‎ 3927795992
ISBN-13:‎ 978-3927795990

Bluntwolf

Bluntwolf ist ein Filmliebhaber aus der goldenen Mitte Deutschlands. Sein Spezialgebiet ist das italienische Kino der 60er bis 80er Jahre, insbesondere Italowestern, Giallo und Polizio. Er ist der Chefredakteur von Nischenkino und gehört dem Redaktionsteam der Spaghetti-Western Database an.

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