The Painted Bird

Licht sieht man nur im Dunkel. Ein kleiner Junge lebt auf einem Hof mitten im Nirgendwo. Nur eine alte Bäuerin kümmert sich um ihn, den Haushalt und das wenige Vieh. Als er eines Morgens aufwacht, ist sie tot. Mutterseelenallein und ohne Nachbarn weit und breit zieht der Kleine notgedrungen los, um Hilfe zu suchen, und begegnet einer Welt voller Niedertracht, in der es offenbar jeder Mensch auf ihn abgesehen hat. Drohungen und Schläge stehen gerade mal am Anfang seiner Odyssee mitten hinein ins finstere Herz der Menschenseele … (Bildstörung)

Bei The Painted Bird handelt es sich um eine Adaption des gleichnamigen Romans von Jerzy Kosinsky aus dem Jahr 1965. Das Buch, das einst wegen seines krassen Inhalts über den Holocaust gefeiert wurde, ist im Laufe der Jahre zum Gegenstand diverser Kontroversen geworden, wobei Kosinsky u.a. beschuldigt wird die autobiografische Geschichte erfunden und sie mit schrecklichen Erlebnissen angefüllt zu haben, die er selbst nie durchleiden musste. Allerdings vermochte es eine solch beunruhigende Vorgeschichte nicht Vaclav Marhouls Leidenschaft für das Material zu drosseln, der erhebliche Anstrengungen auf sich genommen hat, um die unvorstellbare physische sowie psychische Gewalt des Romans auf die große Leinwand zu bringen. The Painted Bird ist als ein recht bildhafter Film zu beschreiben, der menschliche Grausamkeit mit bestürzender Direktheit unter die Lupe nimmt, was den Streifen eventuell zum speziellsten Seherlebnis des Jahres 2020 gemacht hat. Dieser Film ist nicht für jedermann, wobei diejenigen, die sich dafür entscheiden fast drei Stunden mit zahlreichen Akten von Entmenschlichung über sich ergehen zu lassen, eine mehr oder weniger definierte Reise in die Bereiche von Überlebenskampf und Traumata geboten bekommen. Regisseur Marhoul ist es währenddessen enorm gut gelungen seinem unerbittlich erdrückenden Feature so etwas wie einen Sinn zu verleihen.

Der junge Joska (Petr Kotlár) findet sich in der Obhut seiner Tante Marta (Nina Šunevič) irgendwo in der Ödnis Osteuropas wieder, während die Nazis im Zweiten Weltkrieg damit begonnen haben dort fürchterlich zu wüten. Joska muss sich mit tyrannischen Rabauken aus der „Nachbarschaft“ herumschlagen und mit der Einsamkeit seines weltentrückten Daseins klarkommen, wobei er sich an Erinnerungen eines Lebens klammert, das er einst lebte. Joska, ein jüdisches Kind, wird nach Martas plötzlichem Tod auf eine Reise durch eine höllische Realität geschickt, in der es vor wahnsinnigen Irren nur so wimmelt, die nur zu existieren scheinen, um sein Leben zu zerstören. Da er aufgrund seiner Herkunft sowie seines äußerlichen Erscheinungsbildes zu der ethnischen Gruppe der Zigeuner (wie man damals noch zu sagen pflegte) gezählt wird, brandmarkt man ihn im nächsten Dorf als schlechtes Omen und verkauft ihn an Olga (Ala Sakalova), die so etwas, wie eine Schamanin oder Hexe darstellt. Außerdem kommt er kurzzeitig bei einem Müller (Udo Kier) unter und kreuzt die Wege von Lekh (Lech Dyblik), einem Vogelfänger, der irgendwie mit Ludmila (Jitka Čvančarová), einer unersättlichen Prostituierten, verbunden ist. Später wird er von einem Priester (Harvey Keitel) aufgegriffen und zu dem Bauern Garbos (Julian Sands) geschickt, der ihn sexuell missbraucht. Etwas Trost kann er beim russischen Scharfschützen Mitka (Barry Pepper) finden, der die Hilflosigkeit des Jungen zu erkennen bzw. zu verstehen scheint. Mit zunehmendem Alter muss Joska ständige Gewalt sowie allgegenwärtige Ablehnung erdulden und passt sich so langsam an seine Situation an, während die Kriegsschauplätze immer näher rücken.

Einige der ersten Bilder aus The Painted Bird zeigen Joska, wie er von ein paar anderen Jungen verprügelt und sein Lieblingsfrettchen von diesen anschließend in Brand gesetzt wird, das sich währenddessen quiekend sowie voller Qualen umherwälzt. Dabei handelt es sich um die erste Warnung an die Zuschauerschafft, dass der Film nicht vor der Darbietung von Bösartigkeiten zurückschreckt. Gleichzeitig wird somit Marhouls Intention unterstrichen, all das Böse darzustellen, das Kosinski in seinem Roman detailliert beschreibt. Um sein Vorhaben zufriedenstellend bewerkstelligen zu können, musste der Regisseur eine beeindruckend umfangreiche Produktion leiten und den Film über einen Zeitraum von 16 Monaten drehen, sodass Kotlár in seiner Rolle etwas „altern“ konnte. Marhoul drehte den Film zudem in Schwarzweiß, was die Atmosphäre der Epoche prägt und die groteske Bildgestaltung etwas herunterschraubt, wodurch dem Unterfangen eine kunstvolle, filmische Präsenz verliehen wird, während die Sequenz einen Countdown zur spirituellen Dezimierung des Jungen einleitet. Ein langsamer, schmerzhafter Tod für das Frettchen in Nahaufnahme und The Painted Bird fängt gerade erst an.

The Painted Bird erweist sich als eine episodische Geschichte, in der der Junge von einer „Aufsichtsperson“ zur nächsten wechselt und sich der Kontrolle durch Erwachsene dabei nicht entziehen kann, während er – in einer Zeit des Massensterbens – verzweifelt versucht am Leben zu bleiben. Marhoul verpflichtet sich Kapiteln, in denen er diejenigen identifiziert, die die Verfügungsmacht über den Jungen an sich reißen, wobei die meisten den Deckmantel der Vormundschaft nutzen und dem Kind Schmerzen zufügen, indem sie es wie ein Wegwerfobjekt behandeln. Da gibt es zum Beispiel den Müller (Udo Kier), der es nicht duldet, dass sein Knecht (Zdenek Pecha) sowie seine Frau (Michaela Dolezalová) sich gegenseitig begehren und dem Mann direkt vor dem Jungen die Augen aussticht sowie seine Frau aufs heftigste verprügelt. Außerdem ist da auch noch Labina (Julia Valentova), eine äußerst instabile junge Frau mit unermüdlicher Libido, die den Jungen aufnimmt, er aber nicht in der Lage ist ihr die Befriedigung zu verschaffen, die sie sich von ihm erhofft und ihre Lust dann stattdessen mit einem Stalltier zu stillen versucht. Bei dem Priester (Harvey Keitel) erfährt der Junge katholische Wohltätigkeit und wird von ihm in die Obhut Garbos‘ (Julian Sands) übergeben, der sein Gewissen mit Hilfe der Beichte reinhält, um danach nach Hause zurückzukehren und seinen Schützling zu vergewaltigen sowie zu quälen. Auf seinem Weg verliert der Junge immer ein Stückchen mehr seiner Identität, wird gefühllos sowie schweigsam, wobei vorgelebtes und/oder erlerntes Verhalten seine übriggebliebene Unschuld immer weiter pervertiert. Freundlichkeit schadet ihm sogar mehr oder weniger, als Mitka (Barry Pepper), ein vorzüglicher Scharfschütze der Roten Armee dem Jungen etwas Fürsorge zukommen lässt. Dasselbe gilt für Hans (Stellan Skarsgard), einen Wehrmachtssoldaten, der das Leben des Jungen verschont, obwohl er ihn eigentlich erschießen soll.

The Painted Bird hat Genitalverstümmelung, Selbstmord, Tierquälerei, Folter von Kindern, Sodomie, sexuelle Übergriffe (auch an Kindern) und mannigfaltige Morde zu bieten. Der Film ist eine 169-minütige Reise in die schwarzen Herzen von mehr oder weniger gescheiterten Existenzen, die mit ihren grafischen Inhalten sehr wenig Zurückhaltung an den Tag legt. Es gibt erschütternde Überbleibsel der Brutalität des Holocaust, der religiösen Trugschlüsse sowie des Kriegswahnsinns zu „bestaunen“ und obwohl es damit manchmal etwas übertrieben wird (Marhoul schwelgt recht häufig in barbarischen Bildern), vermittelt das Material doch ein umfassendes Verständnis von kindlicher Widerstandsfähigkeit sowie Opferbereitschaft, wobei eine poetische Auflösung der Odyssee des Jungen für etwas Positives sorgt, um das Ganze doch irgendwie versöhnlich enden zu lassen. Der Film mag schwierig zu ertragen sein, doch The Painted Bird gelingt es eine gewisse Bedeutung in der abgrundtiefen Dunkelheit zu finden und beschert einem abenteuerlustigen Publikum, das bereit ist, relativ viel Zeit mit einem durch und durch verstörenden Film zu verbringen, eine wahre Tour de Force.

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Seitenverhältnis: 16:9 – 2.35:1
Alterseinstufung: Freigegeben ab 18 Jahren
Regisseur: Marhoul, Vaclav
Medienformat:‎ Breitbild
Laufzeit: ‎2 Stunden und 49 Minuten
Darsteller: Kier, Udo, Dyblik, Lech, Keitel, Harvey, Sands, Julian, Krawtschenko, Aleksei
Untertitel: ‎Deutsch
Sprache: ‎Deutsch (DTS 5.1)
Studio:‎ Bildstörung

Bluntwolf

Bluntwolf ist ein Filmliebhaber aus der goldenen Mitte Deutschlands. Sein Spezialgebiet ist das italienische Kino der 60er bis 80er Jahre, insbesondere Italowestern, Giallo und Polizio. Er ist der Chefredakteur von Nischenkino und gehört dem Redaktionsteam der Spaghetti-Western Database an.

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