Off Balance – Der Tod wartet in Venedig / Un delitto poco comune / Phantom of Death

Robert Dominici ist ein erfolgreicher Pianist, dessen idyllisches Leben komplett auf den Kopf gestellt wird, als man bei ihm eine seltene Krankheit diagnostiziert, die schnelles Altern begünstigt. Diese Erkrankung beeinträchtigt auch seinen Geist, was zu schrecklichen Wutausbrüchen führt, die oftmals in Mord enden. Inspektor Datti übernimmt die Ermittlungen, fischt aber weitestgehend im Trüben. Doch dann beginnt Robert damit, den Inspektor mit spöttischen Telefonanrufen zu „beglücken“, in der Hoffnung das Handwerk gelegt zu bekommen, bevor es zu weiteren gewalttätigen Tötungen kommen kann…

Off Balance – Der Tod wartet in Venedig ist durchaus als ein Horror-giallo-Hybrid einzuordnen, denn der Film beginnt wie ein richtiger Thriller, lässt sich nach etwa einer halben Stunde allerdings ordentlich in die Karten schauen und enthüllt somit bereits recht früh sein Geheimnis. Das würde normalerweise schon ausreichen, um den Film aus diesem Kontext zu eliminieren, doch er enthält immer noch genügend Elemente, um in den filone aufgenommen werden zu können. Das Drehbuch (gemeinsam geschrieben von den Genre-Veteranen Gianfranco Clerici und Vincenzo Mannino, zu deren weiteren Werken u.a. Lucio Fulcis Lo squartatore di New York / Der New York Ripper von 1982 zählt) enthält einige originelle Ideen. Anstelle des üblichen Mystery-Szenarios legen die beiden Autoren mehr Wert auf Charakterisierung, wobei ein Großteil der Aufmerksamkeit dem tragischen Protagonisten Robert Dominici (Michael York) gewidmet wird. Roberts heile Welt bricht nämlich vollkommen zusammen, als sich herausstellt, dass er an einer seltenen Krankheit – dem sogenannten Hutchinson-Gilford-Syndrom – leidet. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um eine genetische Erkrankung, die zu einer rasch beschleunigten Alterung führt. Typischerweise wird die Krankheit bei Kindern diagnostiziert, von denen dann viele im Alter von ca. 13 Jahren sterben. Indem Clerici und Mannino eine seltene (aber durchaus reale) Erkrankung wie diese in ihr Skript einbauen, sorgen sie dafür, dass das Publikum ein gewisses Maß an Mitgefühl für den Pianisten empfinden kann.

Allerdings wird die Vorstellung, ein erwachsener Mann könnte plötzlich von dieser Krankheit befallen werden, nicht anhand vorhandener Forschung gestützt, während die Annahme sie könne auch zu Anfällen von mörderischer Wut führen, ähnlich phantasievoller Natur ist. Dennoch wird impliziert, dass diese Wutanfälle aus der Frustration und Trauer des Charakters über seinen sich ständig verschlechternden körperlichen Zustand herrühren, sodass dies letztendlich als dramaturgische Freiheit entschuldigt werden kann. Robert wird hier sehr viel mehr an Tiefe sowie Nuance zugestanden, als es in einem Thriller wie diesem normalerweise üblich ist. Die Szenen, in denen er sich mit einem alten Hund anfreundet, der von seinen Besitzern im Stich gelassen worden ist, wirken symbolisch gesehen vielleicht nur wenig subtil, doch sie tragen dazu bei dem Publikum einen Einblick in Roberts Einsamkeit und seine gefühlte Isolation zu geben. Obwohl er um sich schlägt und unschuldige Menschen tötet, kann man trotzdem noch ein wenig Mitleid für ihn empfinden, da sich sein Zustand immer weiter verschlechtert und er den etwas „lahmen“ Inspektor Datti (Donald Pleasence) ja förmlich anfleht, seinen Aktivitäten endlich ein Ende zu setzen. Interessanterweise beklagte sich Regisseur Ruggero Deodato später darüber, dass die sympathische Darstellung des Mörders die Wirkung des Films „abgemildert“ habe (Fenton, Harvey, ed., Cannibal Holocaust and the Savage Cinema of Ruggero Deodato; Godalming: FAB Press, 2nd Edition, 2011, Seite 98).

Deodato führt mit sicherer Hand Regie, indem er das erste Drittel des Films, das sich recht stark an den giallo anlehnt, sehr gekonnt sowie spannend inszeniert, während sich die letzten beiden Abschnitte, die eher einem traditionellen Horrorfilm ähneln, als fesselnd und bei Bedarf sogar angemessen schockierend erweisen. Ein Großteil des Films baut auf dem langen Katz-und-Maus-Spiel zwischen Robert und Inspektor Datti auf. Letzterer ist – im Gegensatz zu seinen Kollegen in solchen Filmen – als ein herzlicher sowie menschlicher Kerl zu beschreiben, doch seine Unfähigkeit die Wahrheit zu erkennen, obwohl die sich direkt vor seiner Nase befindet, animiert manchmal schon etwas zum Haare raufen. Es bereitet Robert einiges an perversem Vergnügen mit dem erfahrenen Polizisten zu spielen, was sich sogar etwas auf das Publikum überträgt. Angesichts Deodatos Ruf für extreme Bilder erweist sich Off Balance auf diesem Gebiet als überraschend zahm. Es gibt jedoch auch ein paar blutige Momente zu bestaunen, wobei die Make-up- und Spezialeffektarbeit als generell sehr gut bezeichnet werden kann. Fabrizio Sforza gebührt besondere Anerkennung dafür Yorks Verwandlung vom gutaussehenden jungen Mann zum schrumpeligen Schatten seines früheren Selbst enorm glaubwürdig gestaltet zu haben.

Der Film profitiert enorm von Michael Yorks herausragender schauspielerischen Leistung, da es ihm mit seiner einfühlsamen Darstellung bestens gelingt Robert zum bedauernswertesten Mörder im gesamten giallo-Kanon werden zu lassen. Dominici ist als ein sensibler, künstlerisch veranlagter Mann zu beschreiben, der beinahe wirklich alles hat, wofür es sich zu leben lohnt. Doch wird ihm die Unbeschwertheit seines fast vollkommenen Lebens durch den plötzlichen Ausbruch der Krankheit grausam zunichte gemacht. Michael York wurde 1942 (als Michael York-Johnson) in England geboren und trat Sir Laurence Oliviers National Theatre Company bei, nachdem er sich in Oxford bereits einen Namen als Schauspieler gemacht hatte. In den späten 1960er Jahren begann er damit in Filmen aufzutreten und beeindruckte mit Nebenrollen in Joseph Loseys Accident – Zwischenfall in Oxford und Franco Zeffirellis Der Widerspenstigen Zähmung (beide 1967) sowie Romeo und Julia (1968). Beinahe wäre er für die Hauptrolle in Dario Argentos 4 mosche di velluto grigio (Vier Fliegen auf grauem Samt, 1971) besetzt worden und auch im okkulten Kulthit The Wicker Man (1973) wurde er in Betracht dafür gezogen, wobei seine Karriere unter diesen „verpassten“ Chancen keinesfalls zu leiden hatte. Im Gegenteil, er übernahm viele erfolgreiche Rollen, wie zum Beispiel in Bob Fosses Cabaret (1972), Richard Lesters Die drei Musketiere (1973), Die vier Musketiere (1974) und Die Rückkehr der Musketiere (1989) sowie Sidney Lumets Mord im Orient Express (1974) und Michael Andersons Flucht ins 23. Jahrhundert (1976).

Später erzielte er einige Erfolge als Basil Exposition in der erfolgreichen Komödie Austin Powers – Das Schärfste, was Ihre Majestät zu bieten hat (1997) sowie in den Fortsetzungen Austin Powers – Spion in geheimer Missionarsstellung (1999) und Austin Powers in Goldständer (2002). Bedauerlicherweise machte er so um das Jahr 2009 herum eine wahre Horrorgeschichte aus dem richtigen Leben durch, als er plötzlich begann an ungeklärten gesundheitlichen Problemen zu leiden. Seine noch immer jugendlichen Gesichtszüge begannen zu kranken, während sein Zustand falsch diagnostiziert wurde, bis sich schließlich herausstellte, dass es sich um eine seltene Bluterkrankung namens Amyloidose handelte. Um die Krankheit bekämpfen zu können, unterzog er sich einer Stammzelltransplantation und einer Chemotherapie. Nachdem er eine Zeit lang seine Stimme und seine Haare verloren hatte, erholte sich sein Gesundheitszustand langsam und er begann wieder Schauspielaufträge anzunehmen. Inspektor Datti wird von Donald Pleasence verkörpert, der ebenfalls eine gute Leistung abliefert. In einigen Szenen übertreibt er es zwar etwas mit Theatralik (vor allem, als er durch die Straßen rennt und „Bastard! Du Bastard! Du verdammter Bastard!“ schreit, nachdem Robert ihn wieder einmal am Telefon verhöhnt hat), doch im Allgemeinen spielt er entspannt und eher zurückhaltend.

Die Rolle von Roberts Geliebten Hélène Martell wird von giallo-Queen Edwige Fenech übernommen, die seit den 1970er Jahren zum ersten Mal wieder in einem Thriller auftritt. Interessanterweise beklagte sich Deodato später darüber, dass sie für diese bestimmte Rolle schlussendlich nicht geeignet gewesen sei. Abgesehen von des Regisseurs Vorbehalten macht Fenech – im wahrsten Sinne der Worte – eine wirklich gute Figur, wobei es schön ist, auch einmal ihre echte Stimme hören zu können, denn wie bei so vielen anderen gialli dieser Zeit wurde der Ton direkt am Set aufgenommen (obwohl viele Nebendarsteller dennoch synchronisiert worden sind), weswegen auch die echten Stimmen von York, Pleasence und einigen anderen vernehmbar sind. Ruggero Deodato wurde 1939 in Potenza geboren, begann seine Karriere beim Film als Roberto Rossellinis Regieassistent und arbeitete an solch Filmen wie Il generale Della Rovere (Der falsche General, 1959) und Era notte a Roma (Es war Nacht in Rom, 1960). Außerdem assistierte er den Filmemachern Riccardo Freda (Romeo e Giulietta / Liebe in Verona, 1964) und Antonio Margheriti (Danza macabra / Castle of Blood, 1964), bevor er sein Regiedebüt mit Ursus, il terrore dei kirghisi (Ursus und die Sklavin des Teufels, 1964) feierte, den er von Margheriti übernahm.

Allerdings wurde ihm die Regieführung bei diesem Peplum-Film nicht zugeschrieben, weswegen er seine richtige Karriere als Regisseur erst 1968 begann. Er führte Regie bei Superheldenfilmen (Fenomenal e il tesoro di Tutankamen / Fenomenal und der Schatz von Tutanchamun, 1968) und Italo-Western (I quattro del pater noster, 1969), poliziotteschi (Uomini si nasce poliziotti si muore / Eiskalte Typen auf heißen Öfen, 1976) sowie Erotikthriller (Ondata di piacere / Waves of Lust, 1975), bevor er sich mit Ultimo mondo cannibale (Mondo Cannibale 2 – Der Vogelmensch, 1977) an das „Kannibalen“-Sub-genre wagte. Mit Cannibal Holocaust (Nackt und zerfleischt, 1980) drehte er seinen bekanntesten (und berüchtigtsten) Film, während der Feuersturm an Kontroversen, der die Exzesse dieses Streifens umgibt (einschließlich einiger echter Tötungen von Tieren), seine vielen Vorzüge als Ganzes schon etwas übertüncht. Deodato verbrachte die 1980er Jahre dann damit bei einer Reihe von Filmen Regie zu führen, die seines Talents nicht würdig waren (inklusive Die Barbaren von 1987) sowie bei so stilvollen, jedoch albernen Filmen wie dem Grenzgänger-giallo Minaccia d’amore (Dial: Help, 1988). Mit Vortice mortale (Die Waschmaschine, 1993) griff er das „Genre“ erneut auf, doch ein Großteil seiner späteren Arbeiten lief „nur“ im italienischen Fernsehen.

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Seitenverhältnis: 16:9 – 1.78:1
Regisseur:‎ Ruggero Deodato
Medienformat: Import, PAL, Breitbild, Director’s Cut
Laufzeit:‎ 88 Minuten
Darsteller:‎ Michael York, Donald Pleasence, Marino Masé, Edwige Fenech, Mapi Galán
Untertitel: ‎Englisch
Sprache: Englisch (Dolby Digital 2.0)

Bluntwolf

Bluntwolf ist ein Filmliebhaber aus der goldenen Mitte Deutschlands. Sein Spezialgebiet ist das italienische Kino der 60er bis 80er Jahre, insbesondere Italowestern, Giallo und Polizio. Er ist der Chefredakteur von Nischenkino und gehört dem Redaktionsteam der Spaghetti-Western Database an.

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